Ein Jahr liegt hinter uns, das uns immer wieder an unsere Belastungsgrenze brachte und bringt. Ein Jahr liegt hinter, das uns hat spüren lassen: Jede und jeder ist verwundbar, wenngleich nicht jede:r gleichermaßen.
Ein Jahr Corona. Ein Jahr hoffen und bangen. Ein Jahr leben mit Unplanbarkeit und Unsicherheit. Ein Jahr leben auf Distanz. Ein Jahr leben mit Einschränkungen und Verzicht auf Freiheiten. Ein Jahr sich sehnen nach Normalität. Ein Jahr Sorge um unsere Zukunft, um die Zukunft alter und junger Menschen. Ein Jahr, das die Risse, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft offenbarte. Ein Jahr ver-rückte Welt, das Selbstverständlichkeiten und Ordnungen durcheinandergebracht hat. Ein Jahr versuchen, das Unbegreifliche zu begreifen.
Ein Jahr liegt hinter uns, das uns immer wieder an unsere Belastungsgrenze brachte und bringt: Die Eltern zwischen Homeschooling und -office, die Ärzt:innen und Pfleger:innen in den Intensivstationen im Kampf um Menschenleben, die Kassierer:innen im Supermarkt, die Mehrarbeit leisten und sich einem erhöhten Infektionsrisiko aussetzen, die Arbeitnehmer:innen in Kurzarbeit ohne Aussicht, die Künstler:innen und Freischaffenden ohne Perspektive. In vielen Gesprächen in unserem Listening-Projekt 2020 haben wir erfahren, wie sehr und dauerhaft die Corona-Krise die Menschen beschäftigt. So werden die Auswirkungen der Pandemie auf die Schüler:innen und Schulen mit Besorgnis betrachtet ebenso wie die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich und die daraus resultierenden Folgen für Kinder und Jugendliche, die unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen leben. Außerdem sind viele von den aufkommenden und immer populärer werdenden Verschwörungserzählungen beunruhigt.
Ein Jahr liegt hinter, das uns hat spüren lassen: Jede und jeder ist verwundbar, wenngleich nicht jede:r gleichermaßen. Es zeigte auf, wo im eigenen Selbstverständnis, im gesellschaftlichen Zusammenleben und in der globalen Verantwortung Bruchstellen vorhanden sind.
Konnten wir hier in der westlichen Welt die Verwundbarkeit unseres Planeten bis jetzt immer noch verdrängen, so ist das bei Corona anders. Corona betrifft jede und jeden Einzelnen existentiell. Das notwendige Tragen der Masken ist ganz materiell Ausdruck dessen. Wie die fehlenden Masken im ersten Lockdown und die Impfstoffverteilung jetzt zeigen, bezieht sich die Verwundbarkeit jedoch nicht allein auf den Einzelnen, sondern auf uns als Weltgemeinschaft, darauf wie wir gewohnt sind zu wirtschaften.
Papst Franziskus bring es auf den Punkt, wenn er in Fratelli tutti schreibt: „Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben.“ (FT 32)
Und noch eines zeigt Corona, worauf der Vulnerabilitätsdiskurs aufmerksam macht: Je verletzlicher wir werden, umso mehr sind wir darauf bedacht, uns selbst, unsere Kinder, das eigene Land zu schützen. Dies führt nicht selten zu Maßnahmen, die unsere eigene Verletzlichkeit zwar verringern, jedoch die Wunden anderer vergrößern. Die zunehmende Dramatik in den Flüchtlingslagern macht dies überdeutlich.
Wie können wir mit dieser Verletzlichkeit umgehen, wie uns schützen, ohne uns hinter einem Schutzpanzer zu verbergen? Wie können wir vulnerable Gruppen schützen, ohne die Grundrechte auf Freiheit dauerhaft einschränken zu müssen. Die Ärzt:innen und Pfleger:innen machen es uns vor. Sie schützen sich und andere, gehen aber dennoch das Risiko des Kontakts und der Berührung ein, um dem Leben zu dienen. Es braucht also einen souveränen Umgang mit der eigenen Verwundbarkeit, die nicht auf Distanz geht, sondern das Risiko der Berührung eingeht, ohne die Gefahr, die damit verbunden ist, zu leugnen.
„Souveräne Vulnerabilität“, nennt dies die Theologin Hildegund Keul (mehr lesen). „[Es] sichert nicht immer das eigene Leben. Aber sie praktiziert Humanität. Würden alle Menschen ausschließlich auf ihren Selbstschutz achten, lebten wir von jetzt auf gleich in einer gnadenlosen Gesellschaft.“
Mit unserem Saisonthema „Die verwundete Gesellschaft“ möchten wir all diesen Fragen Raum geben und dahin blicken, wie wir in Gesellschaft, Politik und im persönlichen Leben eine derartige souveräne Vulnerabilität entwickeln können, eine die um die Verletzlichkeiten im persönlichen Bereich, in gesellschaftlichen und politischen Systemen weiß, aber im Blick auf die eigene Sicherheit sich nicht abschottet und damit den Nächsten in den Blick nimmt.
Ihre Claudia Pfrang
Wer sich intensiver mit dem Vulnerabilitätsdiskurs beschäftigen möchte, findet hier Lesenswertes.
Im Director's Blog der Domberg Akademie teilt Dr. Claudia Pfrang ihre Gedanken zu aktuellen Themen unserer Zeit.