Schauen wir auf die Dilemmata unserer Zeit wird klar: Vieles wird sich ändern müssen. Aber wie schaffen wir es, uns wirklich den Realitäten zu stellen und ein echtes Umdenken einzuleiten? Dr. Claudia Pfrang plädiert im neuen Director's Blog für eine "pfingstliche Dynamik" - die Schockstarre verlassen, die Welt neu denken und hinausgehen und gestalten.
Zeitenwende – ein viel strapaziertes Wort seit der Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz im Blick auf den Krieg in der Ukraine und die Konsequenzen für die Gesellschaft. In seiner Regierungserklärung am 27.2.2022 erklärte er eine radikale Neuausrichtung in der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik.
Der Begriff Zeitenwende beschäftigt mich intensiv seit der Corona-Krise. Schon damals führten ihn viele im Munde. Im Mai 2020 stellte Paul Michael Zulehner in einem Artikel skeptisch in Rückgriff auf Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ und bisherige Krisen in der Geschichte die Frage, ob wir wirklich aus der Krise lernen würden. Seitdem ist zwar klar: Vieles wird sich ändern müssen. Aber es bleibt die Frage. Wie schaffen wir es, uns wirklich den Realitäten zu stellen und eine Dynamik des Umdenkens einzuleiten? Für mich bleibt im Rückblick Corona eher eine Zwischenzeit.
Inzwischen herrscht Krieg in Europa und es ist kein Ende in Sicht. Alte Gewissheiten sind zerbrochen. Wir sind mit vielen Dilemmata konfrontiert, die wir nicht so einfach auflösen können: Es gehörte zu den grundlegenden Einsichten meiner Generation, dass Waffen keinen dauerhaften Frieden schaffen können, aber in diesen Zeiten des brutalen Angriffskriegs Putins sind wir mit der moralischen Verpflichtung konfrontiert, neben der humanitären Hilfe und den Wirtschaftssanktionen auch Waffen an die Ukraine zu liefern, damit diese sich und ihre Demokratie verteidigen kann.
Bricht nun eine Zeitenwende, eine wirklich neue Ära an? Wir erleben eine Zeit, die Unsicherheiten auslöst. Das Alte ist vergangen, Neues ist noch nicht sichtbar. Viele Stimmen sprechen, manchmal ist es eher ein Stimmenwirrwarr. Für mich gehört es zu den Signaturen des heutigen Menschseins, dass es keine eindeutigen Antworten mehr gibt. Dilemmata werden bleiben. Die Versuchung ist groß, darauf mit einer „Vereindeutigung der Welt“ (Thomas Bauer) zu reagieren. Gleichzeitig sind wir immer wieder aufgefordert, klar Stellung zu beziehen gegen offenes Unrecht. Diesem Anspruch gerecht zu werden, ohne dabei Vieldeutigkeiten zu leugnen, bleibt eine stetige Herausforderung – gerade jetzt.
Wie kann die Zeitenwende also heute aussehen angesichts des noch andauernden Krieges? Sie erfordert mehr als neue Prioritäten in der Verteilung des nationalen Haushalts zu setzen. Daniel Bogner schreibt dazu treffend auf feinschwarz.net: „Die Koordinaten meiner, unserer Existenz als Bürger:innen und Bewohner:innen dieses Kontinents werden künftig andere sein als bisher.“ Wir sind gerade in einer Situation, in der wir neu denken müssen, weil genau das geschieht, „was wir nie denken wollten. Recht des Stärkeren statt Stärke des Rechts. […] Dass man miteinander redet, manchmal ringt, sich verständigt, Regeln aufstellt, Verträge schliesst. […] Der Krieg zwingt uns zu sehen: Nichts mehr von dem, worauf unser Miteinandersein im Europa seit Mitte der 1970er Jahre aufgebaut war, gilt heute noch. Und wir haben keine Ausrede mehr, das nicht zu sehen.“
Schockstarre aufbrechen
sich den Realitäten stellen
Welt neu sehen
Welt neu begreifen
Was ist wirklich wichtig?
Was ist mir wichtig?
Mut finden
Welt
neu denken
--- Claudia Pfrang
Um den Frieden dauerhaft und weltweit zu sichern und damit eine neue Ära anbrechen kann, müssen wir uns unabdingbar den multiplen gegenwärtigen Krisen stellen. Corona, Klima, Krieg - all diese Krisen überlagern sich und hängen zusammen: Wann begreifen wir endlich, dass wir uns längst in einem globalen Konflikt um den Zugang und die gerechte Verteilung von Ressourcen befinden, dem wir uns stellen müssen? Nur wenn wir uns dieser Realität ernsthaft und ehrlich stellen, die auch den Verzicht auf Privilegien bedeutet und mit Verlusten einhergeht, kann wirklich eine neue Ära entstehen.
Welt neu denken – diese Worte, die ich vor Kurzem bei einem Aufenthalt in Salzburg auf einem Plakat las, beschäftigen mich. Damit wies man vor dem Dom auf die Angebote anlässlich des Pfingstfestes hin. In den Pfingsttexten ist davon die Rede, wie Menschen die Schockstarre verlassen, sich den Realitäten neu stellen, wie sie lernen, andere und sich neu zu verstehen, wie sie begeistert hinausgehen und gestalten. Ein Bild, eine Verheißung für die Zeitenwende? Wenn wir die multiplen Krisen dieser unserer Zeit meistern wollen, müssen wir uns diesen neuen Realitäten stellen, die Welt neu denken und sie gestalten. Wir werden uns früher oder später fragen müssen: Wer sind wir angesichts veränderter Vorzeichen? Was ist uns wirklich wichtig und für uns unverzichtbar? Wie können wir dafür einstehen und für eine neue gerechte, friedliche und solidarische Welt kämpfen? Das wird nur gehen, wenn wir unsere Komfortzone verlassen.
Den Mut dazu und pfingstliche Dynamik wünsche ich Ihnen von Herzen.
Ihre Claudia Pfrang