Wir gehen stürmischen Zeiten entgegen – das macht Angst. Konfrontiert mit Dilemmata, die sich nicht so leicht auflösen lassen, stellt sich die Frage: Wie kriegen wir wieder Frieden? Komplexität lässt sich nicht durch Vereinfachung lösen, schreibt Dr. Claudia Pfrang zum Auftakt des neuen Saisonthemas FRIEDEN KRIEGEN. Die biblische Erzählung der fetten und mageren Jahre kann den Blick auf all das lenken, wovon wir zehren können. Und sie gibt uns Zuversicht …
Träume sprechen immer wieder aus dem Unterbewussten zu uns. Manchmal verlangen sie danach, ernst genommen zu werden. So erging es auch dem Pharao. Ihm muss sein Traum von den mageren und fetten Kühen, den sieben vollen Ähren und den kümmerlichen Ähren nachgegangen sein. Er ließ Josef holen: Von ihm hieß es, dass er Träume deuten konnte. Josef deutete den Traum als die sieben fetten und die sieben mageren Jahre. Und der Pharao setzte Josef ein, um Getreidespeicher im ganzen Land anzulegen, die in den mageren Jahren Ägypten und auch die umliegenden Länder vor einer Hungersnot bewahrten.
Diese Erzählung kommt mir aufgrund der aktuellen Weltlage immer wieder in den Sinn. Sind nun die fetten Jahre des Lebens in Frieden und im Überfluss vorbei, und es beginnen die mageren? Müssen nicht sogar die mageren Jahre nun beginnen, um im Blick auf die Zukunft unseres Planeten Schlimmeres zu vermeiden? Und was bedeuten die mageren Jahre für uns hier im globalen Norden, in dem die meisten Menschen in einer privilegierten Situation sind? Ist es nicht an der Zeit, dass die, denen es gut geht, sich solidarisch zeigen und von ihrem Überfluss abgeben? Die, die ihre Getreidespeicher im übertragenen Sinne gut füllen konnten. Kann das nicht unser persönlicher, solidarischer Beitrag für den Frieden sein?
Frieden beginnt bei jedem und jeder Einzelnen – hier und heute. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist gelingendes Leben in gelungenen Beziehungen zu anderen und zu sich selbst, zur Um- und Mitwelt. Wie kriegen wir wieder Frieden? Diese hochaktuelle Frage vieler Menschen steht im Mittelpunkt unseres neuen Saisonthemas FRIEDEN KRIEGEN – Sind unsere Ideale noch realistisch? Eine komplexe Frage, die nicht eindimensional zu beantworten ist und die letztlich – und das sehen wir am aktuellen Geschehen – ökonomische, ökologische, politische, soziale und persönliche Dimensionen hat.
Wir gehen stürmischen Zeiten entgegen. Das macht Angst. Aber die Erzählung der fetten und mageren Jahre kann den Blick auf all das lenken, wovon wir zehren können, was uns wirklich wichtig im Leben ist. Und sie gibt uns Zuversicht: Wir können es schaffen.
Und gleichzeitig gibt es nichts zu verharmlosen: Wir dürfen uns nicht in die Tasche lügen. Die auf uns zukommenden Konflikte sind sehr ernst und sie lassen sich nicht einfach schön- und schon gar nicht wegreden. Doch fragen wir uns ehrlich: Was sind meine inneren Treiber? Und was verliere ich, wenn ich Gewohntes nicht mehr so tue wie bisher? Sich von manchem zu verabschieden, wird sicher schmerzlich sein, aber vielleicht kann ich meinen Blickwinkel verändern. Was gewinne ich, wenn ich dieses oder jenes lasse? Zeit für mich und andere. Ich schone meine Ressourcen und die unseres Planeten.
Eines werden wir sicher brauchen, um Spaltungen vorzubeugen: gelebte Solidarität. Können nicht starke Schultern mehr tragen, um zu verhindern, dass andere unter der Last zerbrechen? Zudem habe ich häufig erlebt, dass Loslassen und die Erfahrung des Mangels Raum für Kreativität und neue Ideen eröffnen.
Aber auch das zeigt sich immer mehr: Wir werden damit rechnen müssen, und das macht sich an der Frage der Waffenlieferung in die Ukraine fest , dass eine Lösung auf einer anderen Seite Probleme verursacht. Wir sind konfrontiert mit Dilemmata, die sich nicht so leicht auflösen lassen. Das schafft Unbehagen, wie es der Soziologe Armin Nassehi immer wieder formuliert. Und er fragt: „Hatten wir jemals eine gute, glatte Lösung ohne Kosten? Wir sehnen uns danach, dass alles zusammenpasst. Aber das tut es nicht.“ (Interview in Publik Forum Nr. 17, 2022, S. 15)
Frieden Kriegen
Sich nicht in die Tasche lügen
Widersprüche aushalten
an Lösungen arbeiten
Solidarität leben
Hoffnung bewahren
Friede ist nicht einfach zu haben
Wir müssen wohl lernen, auf Dauer mit diesen Widersprüchlichkeiten umzugehen. Komplexität lässt sich nicht durch Vereinfachung lösen, sondern braucht Analyse, Reflexion und Diskurs, der die Auseinandersetzung nicht scheut. „Was wie eine Schwäche aussieht – Vielfalt, Komplexität, Widerspruch, Vorläufigkeit – ist letztlich eine Stärke. Es ist das Produkt demokratischer Ergebnisoffenheit“, so Nassehi. Umso mehr ist es wichtig, dass jede:r von uns befähigt ist und wird, seinen Standpunkt zu finden, offenzulegen und dafür einzustehen. Das ist schließlich eine wesentliche Aufgabe von Bildung.
Ja, wir gehen mageren Jahren entgegen. Dabei sollten wir uns vergegenwärtigen, dass der Blick in die Zukunft immer von der Gegenwart geprägt ist. Was die Zukunft bringen wird, wissen wir nicht. Es gibt gute Gründe, pessimistisch zu sein. Als Christin lebe ich aber aus der Grundhaltung heraus, dass es immer eine Hoffnung geben kann und es meinen Beitrag braucht – auch wenn es in diesen Zeiten schwerfällt.
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Text: Dr. Claudia Pfrang
Dem Frieden auf der Spur: Sind unsere Ideale noch realistisch?, fragen wir in der neuen Ausgabe des DA-Magazins. Außerdem teilen wir auf den Themenseiten wie immer spannende Berichte, Meinungen und Ausblicke unseres Bildungsteams und stellen Ihnen das aktuelle Programm der Akademie für den Herbst und Winter vor. Digital oder per Post in Ihren Briefkasten!