Rituale geben uns Halt im Alltag und helfen uns, wenn Unbekanntes wartet – gerade in unsicheren Zeiten wie diesen. Was Rituale so bedeutsam macht und wie wir diese "Rastplätze für die Seele" für uns gut nutzen können, weiß Dr. Claudia Pfrang.
Wahrscheinlich war es bei Ihnen ganz ähnlich wie bei uns: Der erste Corona-Lockdown im März vor zwei Jahren brach urplötzlich über den Alltag unserer Familie herein. Von einem Tag auf den anderen waren wir alle wieder zu Hause, dauernd. Unsere Söhne kamen von ihren Studienorten zurück, mein Mann und ich arbeiteten im Homeoffice. So geriet viel Gewohntes durcheinander, und wir mussten unser Alltagsleben komplett neu organisieren.
Damit all das Neue auch gut klappt, brauchte es Absprachen: Was müssen wir besorgen? Wer kocht? Wann? Und wie? Ganz praktische Dinge. Jeden Samstag diskutieren wir das seitdem gemeinsam und erstellen einen Essensplan, bevor wir das Nötige für die Woche einkaufen. Das alles ist weit mehr als eine logistische Maßnahme, um die Nahrungsaufnahme zu sichern. Wir hatten ein neues Samstags-Ritual gefunden. Damit haben wir für uns Klarheit und Verbindlichkeit geschaffen, die uns einmal in der Woche entlasten und helfen, unseren restlichen Alltag miteinander zu meistern und uns buchstäblich mittags gemeinsam zu stärken.
Gerade in diesen Zeiten, in denen je nach Lockdown-Situation und Inzidenz so vieles unsicher geworden ist, gewohnte Strukturen, wie zum Beispiel der tägliche Weg zur Arbeit und Schule, wegfallen, suchen Menschen nach Struktur und Verlässlichkeit, nach Stütze und Halt. Rituale sind ein wichtiger Anker – für mich persönlich, in der Partnerschaft, in der Familie und auch im Berufsalltag mit meinen Kolleg:innen.
Wir alle haben Rituale, meistens einen ganzen Vorrat davon, manche praktizieren wir ganz unbewusst und selbstverständlich. Wir haben beispielsweise ein bestimmtes Aufwach- und Weckritual, das uns jeden Morgen hilft, in den Tag zu starten. Wenn wir keines hätten, müssten wir jeden Morgen neu überlegen und entscheiden, wie wir wohl am besten aufstehen. Das wäre ziemlich anstrengend. Rituale entlasten und helfen uns, durch diese Regelmäßigkeit buchstäblich „Ordnung in unser Leben zu bringen“.
Anthropologen sagen: Ohne Rituale funktioniert unsere Gesellschaft nicht. Doch viele Rituale sind verlorengegangen oder passen nicht mehr, weil wir sie nicht mehr verstehen (wie zum Beispiel viele christliche Rituale) oder weil sie aus der Zeit gefallen sind. Dennoch fehlen sie uns als wichtige Geländer in Zeiten von Krisen und Veränderung. Andererseits sind wir frei geworden, Rituale für uns persönlich und mit dem eigenen Lebensumfeld, der Familie etwa, zu kreieren, denn sie müssen passen wie Schuhe, mit denen man unterwegs ist. Es ist letztlich ein Paradox: Wir können ohne Rituale nicht leben, aber sie dürfen nicht zum Ritual erstarren.
„Ritual“ ist ein schillernder, sehr diffuser Begriff und wird ganz unterschiedlich verwendet. Rituale sind, wie es der Soziologe Karl Gabriel ausdrückt, „stilisierte wiederholbare Handlungen an den typischen Übergängen und modernen Brüchen des Alltags“. Es sind Handlungen, die wir immer wieder tun, allein oder mit anderen, und dies auf eine bestimmte Art und Weise. Sie haben für uns meist eine Bedeutung, die über das hinaus oder tiefer geht, was wir offensichtlich tun. Dies unterscheidet ein Ritual von der Gewohnheit, wie dem Zähneputzen, die ohne besondere Aufmerksamkeit, ohne bewusste Bedeutung praktiziert wird und ohne Symbole oder Symbolhandlungen auskommt.
Rituale sind also Vorgänge und Zeremonien, die wir regelmäßig nach einem bestimmten Schema vollziehen. Sie helfen uns, unseren Tag zu strukturieren und zwischen Arbeit und Schlaf die besonderen Zeiten des Tages, des Jahres, ja unseres Lebens zu begehen. Rituale strukturieren unser Leben. Sie geben ihm einen Rahmen. Oder könnten Sie sich etwa vorstellen, am Weihnachtstag umzuziehen?
Rituale helfen uns, uns in unserem eigenen Haus zurecht zu finden. „Die Wohltat der Ordnung ist ganz unleugbar, sie ermöglicht dem Menschen die beste Ausnützung von Raum und Zeit, während sie seine psychischen Kräfte schont“, schrieb schon Sigmund Freud, und das spüre ich im Alltag immer wieder.
Wer sich von Ritualen in der Gestaltung des Alltags in die Pflicht nehmen lässt, hat mehr Spielraum für die Kür. Rituale können damit ein Ort des Innehaltens und des Aufatmens sein, wo ich mich in meinem eigenen Haus zurechtfinden kann. Wie lebensnotwendig dies sein kann, hat Teresa von Ávila einmal schön zusammengefasst: „Kann es etwas Schlimmeres geben, als dass wir uns in unserem eigenen Haus nicht zurechtfinden? Wie können wir hoffen, in anderen Häusern Ruhe zu finden, wenn wir sie im eigenen nicht zu finden vermögen?“
Gemeinsam vollzogene Rituale verbinden Menschen miteinander. Wie wichtig sie sind, zeigt sich besonders an den großen Festen im Jahres- und Lebenskreis und bei anderen großen Ereignissen. Wie sehr fehlt gerade jetzt den Menschen das regelmäßige Zusammenkommen im Verein und im Büro, die Familienfeier zu Taufe, Erstkommunion und Hochzeit! Wie einsam fühlen sich Menschen, wenn sie Weihnachten zum Beispiel nicht mit Familie und Freunden verbringen können.
In Ritualen verhalten sich Menschen auf klare Weise zueinander. Sie schaffen Verständnis füreinander, geben dem Miteinander eine heilsame Form und einen Ausdruck. Sie verbinden uns, wenn wir sie gemeinsam vollziehen, sie stärken und fördern Gemeinschaft, schaffen ein Wir-Gefühl: „Hier bin ich zu Hause.“ Wenn ich beispielsweise um Rituale in der Familie weiß, verbinden sie die Familienmitglieder auch dann, wenn sie nicht anwesend sind.
So geben Rituale Geborgenheit und Heimat. Sie spannen damit ein unsichtbares Netz, das wie ein doppelter Boden für schwierige Lebenssituationen ist.
Jede:r von uns kennt Schwellensituationen: Das sind Orts- und Berufswechsel, die Übergänge in Schule und Beruf oder wenn wir Menschen am Ende ihres Lebens loslassen müssen. Rituale helfen uns vor allem in diesen Schwellensituationen, bewusst abzuschließen, um neu an etwas herangehen zu können. Durch sie können wir Gefühle in einem geschützten Raum ausdrücken. Rituale machen das Unbegehbare begehbar, sie sind wie ein Geländer, an dem ich mich gerade in schwierigen Situationen festhalten und entlanghangeln kann. Besonders wird dies beim Beerdigungsritual spürbar.
Mit Schwellenritualen verweilen wir im Augenblick, was in diesen Situationen oft schwierig genug ist. Denn erst dann öffnet sich ein Zugang für das Neue. Bildlich gesprochen: Wer die Türe hinter sich nicht schließen kann, steht immer im Durchzug. Das ist höchst ungesund.
Wie kann ein solches Ritual begangen werden? Ich habe für mich mein persönliches Übergangsritual gefunden: Ich gehe bei einem Orts- oder Berufswechsel bewusst durch die Wohnung, den Ort oder die Arbeitsstätte und packe besondere „Schätzchen“ in eine Schatzkiste bei mir zu Hause. Das hilft mir, besondere Erinnerungen wie in einem Gefäß aufzubewahren und damit gestärkt Neuland zu betreten. Dieses eher alltägliche Abschiedsritual hat mir letztlich geholfen, mich vor einigen Jahren von meinem Vater zu verabschieden. Am Sterbebett haben wir im Erzählen besondere Erinnerungen eingesammelt, die mich durch die Zeit der Trauer getragen haben.
Mit Ritualen können wir also diese besonderen Augenblicke des Übergangs wahrnehmen und aktiv gestalten. Mir ist es wichtig geworden, Übergänge nicht hastig in die Normalität des Alltags zu überführen, sondern sie buchstäblich zu begehen (wie ich auch einen Raum ausschreite) und ihnen damit eine eigene Geltung zu verleihen.
Gerade in unserer beschleunigten Welt, in der uns die Zeit oft genug in den Händen zerrinnt und der Alltag zerfleddert ist, tun Rastplätze für die Seele so gut. Der heilige Franz von Sales bringt es auf den Punkt: „Nimm dir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Stillwerden, außer wenn du viel zu tun hast, dann nimm dir eine Stunde Zeit.“
Auch im Team der Domberg-Akademie achten wir darauf und nehmen uns bei allen Anforderungen jede Woche eine Viertelstunde gemeinsame Zeit, in der wir einfach da sind. Wir halten einen Moment inne, können durchatmen und auch auftanken. Innehalten und nur eine Minute ein- und ausatmen, das geht immer mal zwischendurch. Auch wer an der Supermarktkasse mit Abstand eine Weile warten muss, kann das mit einem Ritual des Innehaltens verbinden. Ist es doch ein Moment geschenkte Zeit!
Indem wir damit den Alltag bewusst für einen Moment anhalten, machen Rituale uns bewusst: Es gibt mehr als arbeiten, Geld verdienen, Karriere machen. Wir ahnen: Unser Leben ist sinnvoll, ja es hat einen „Mehr-Wert“. Rituale sind also mehr als Alltagsgewohnheiten und eingespielte Routine. Sie können mich innerlich ins Lot bringen und mich mit mir selbst, mit der tiefsten Tiefe in mir, mit Gott in Berührung bringen. Nach dem amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell soll das Ritual dem menschlichen Leben Form verleihen – nicht durch ein bloßes Ordnen auf der Oberfläche, sondern in seiner Tiefe.
Wie wäre es mit folgendem Ritual: Schreiben Sie jeden Abend mit einem liebevollen Blick auf den Tag auf, über welches Wort Sie sich gefreut haben. Sie werden nach einer Weile merken, wie viel Zukunftsmut solche geschenkten Worte geben können. Es geht also nicht darum, dass wir irgendwelche „Übungen“ vollziehen, sondern dass wir für uns passgenaue Rituale entwickeln, die uns in die Tiefe unseres Seins und zu einem gelingenden Leben führen.
Es geht nicht darum, mehr aus sich herauszuholen, sondern um Spuren, auf denen wir zu unserer eigenen Lebendigkeit finden und die uns helfen, unser Leben aufmerksam zu leben, die eigenen Kraftquellen zu entdecken und fließen zu lassen. Sie sind eine Strategie, Boden unter den Füßen zu spüren und Schritt für Schritt mutig in die Zukunft zu gehen.
Text: Claudia Pfrang
Dieser Beitrag erschien im DA-Magazin Ausgabe 1-2022.
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