Die Sinnfrage zu stellen, scheint so selbstverständlich wie absurd. Denn der Mensch hat die Gabe, scheinbar alles in Frage zu stellen, selbst den Sinn der Dinge und das Leben im Ganzen. Zugleich wissen wir auch – und leben meist gut damit –, dass es keine letzte Antwort auf die Frage gibt.
Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“, fragt der Philosoph Leibniz bereits 1714 in radikaler Verallgemeinerung der Frage nach dem Sinn. Und bis heute gilt die Philosophie als Zieldisziplin, wenn es um die Sinnfrage geht. Das ist sie aber nur bedingt, nämlich dann, wenn es um allgemeine Einsichten und theoretisches Nachdenken über den Sinn von Welt und Leben geht. Nicht jedoch, wenn sich die Sinnfrage in existenzieller Not oder abgründigen Momenten stellt, wenn Halt wegbricht und Orientierung im Leben verloren geht.
Dann ist die Sinnfrage unerlässlich, wie die Frage nach dem richtigen Weg und möglichen Ziel. Fertige Antworten, gar Sinndeutungen, Weisheitssprüche oder Ratschläge sind dann weder gut noch hilfreich. Davon erzählt eindrücklich das Buch Hiob: „Eure Merksätze sind Sprüche aus Staub“ (3,12). Statt „windiger Worte“ „leidiger Tröster“ (16,2–3) gilt es, erfahrenen Sinnverlust vor allem wahrzunehmen und zu bezeugen – damit den Blick auf das, was wirklich geschieht, mit dem Betroffenen zu teilen und es auszuhalten – ganz im Sinne Hiobs: „O Erde, deck mein Blut nicht zu / und ohne Ruhstatt sei mein Hilfeschrei!“
Krisen- oder Umbruchszeiten generieren Zukunftsangst oder zumindest das Gefühl von Aufbruch im doppelten Sinn des Wortes. Vermeintlich Selbstverständliches, verlässlicher Boden bricht auf, damit brechen Halt und Sicherheit weg. Doch Aufbruch kann auch Anfang einer neuen Reise sein und das Ende einer Starre, der erste Schritt zu einer persönlichen oder beruflichen Neu-Orientierung, der Beginn von sozialem und politischem Wandel. Wo Aufbruch und Umbruch, kann eine neue Seite aufgeschlagen werden im ungeschriebenen Buch der Zukunft. Nur weiß man dann meist noch nicht, wie diese zu gestalten sei.
Man will es anders und besser machen, aber wie? Was wäre das Bessere, und wie können wir es gemeinsam und nach neuem Maß gestalten? So brechen ethische und existenzielle Fragen heute wieder verstärkt auf, gewinnen soziale und politische Relevanz angesichts der Dringlichkeit von Krisen- und Kriegsfolgen und gehen uns persönlich und im sozialen Miteinander an. Fordern aber auch grundsätzliche Weichenstellungen im Handeln:
Wo wollen wir hin, wie wollen wir leben?
Was zählt eigentlich, und was zählt mehr als anderes?
Wie frei sind wir wirklich, wie können wir Freiräume schaffen und Selbstbestimmung leben?
Entscheidend ist nun, ob man mit diesen Fragen in Krise oder Sinnverlust konfrontiert wird, was kaum Spielraum zum neu Handeln und Reflektieren lässt. Oder ob man die Chance hat, sich solchen Fragen in freiwilliger Besinnung zu stellen, in einem gemeinsamen Innehalten und Austausch ohne Zeitdruck und Entscheidungsnot. Wo Selbstreflexion Raum bekommt und philosophische Reflexion auf die existenziellen wie ethischen Dimensionen der Fragen möglich ist, wie in unseren drei Workshops zur Persönlichkeitsbildung „QUO VADIS? Sinn suchen. Orientierung finden“.
Mit der Sinnfrage, in der Weise ernsthaft gestellt, richten wir uns aus auf den Fluchtpunkt des Seins. Dieser ist und bleibt außerhalb des Bilds, das wir sehen können, bildhaft gesprochen. Der Fokus auf den Fluchtpunkt ist wie ein Gipfelblick. Nur wenn wir den haben, können wir uns auf den Weg machen. Aber der Gipfel hat genau genommen mit dem Weg nichts zu tun, muss auch nicht erreicht werden, nur hin und wieder im Blick sein, um Orientierung zu haben unterwegs. Daher lohnt es, mit der Frage „Worum geht es eigentlich?“ die Fluchtpunkt-Perspektive einzunehmen, um Klarheit zu gewinnen über Mitte und Ziel – sei es im persönlichen Leben oder in gesellschaftlicher Gestaltung.
Das erfordert immer mal innezuhalten und sich zu verorten auf dem eigenen Weg und im Leben. Ohne sich hin und wieder Zeit zu nehmen und die Geduld zu haben für einen solchen Blick, verliert man leicht den Sinn für Prioritäten und die Orientierung unterwegs. Arbeitet sich ab im Nebensächlichen, vernachlässigt seine Ressourcen und vergeudet Lebenszeit.
Dennoch geht es nicht um ein ständiges Kreisen um den Sinn! Die Sinnfrage wird vielfach thematisiert, doch auch auffallend polarisiert. Dabei geht es entweder um Sinnverlust im Abgrund der Depression, um Zustand und Symptom „des erschöpften Selbst“ (A. Ehrenberg). Oder um das wohlstandspropagierte Versprechen totaler Sinnerfüllung in einem durch Leistung und Achtsamkeit (selbst-)optimierten Leben. Was zwischen die Stühle dieser beiden scheinbar zur Normalität gewordenen Extreme fällt, ist der Sinn dafür, worum es im menschlichen Leben eigentlich geht – wo Sinnerfahrung individuell und gemeinsam zu finden ist, wie mit Sinnverlust umzugehen ist und inwieweit wir Sinnerfüllung brauchen.
Menschen brauchen Sinn wie die Luft zum Atmen. Dieser äußert sich vor allem als Sinn für Verbundenheit und in der Erfahrung von Beziehung und Bezug. Dabei geht es auch um einen Bezug zu sich selbst in innerer Vielfalt und äußerem Wandel, um Verbundenheit zu Welt und Natur, zum Schönen und Guten. Was wir aber jeweils als schön und gut erfahren, ob wir uns im Naturerleben oder in der politischen Gestaltung von Welt, in kreativer Auseinandersetzung mit materiellen oder immateriellen Dingen, in Musik, Meditation oder Bewegung als besonders sinnerfüllt erfahren, ist individuell ganz unterschiedlich. Ebenso das Maß, in dem uns etwas Sinn gibt. Doch Sinn ist ein gradueller Begriff: Manchmal reicht wenig, irgendeine Aufgabe und ein Wozu, um hinreichend Sinn zum Leben zu ‚haben‘.
Sinn suchen. Macht das Sinn? fragen wir in der neuen Ausgabe des DA-Magazins. Außerdem teilen wir auf den Themenseiten wie immer spannende Berichte, Meinungen und Ausblicke unseres Bildungsteams und stellen Ihnen das aktuelle Programm der Akademie im Frühjahr vor. Digital oder per Post in Ihren Briefkasten!
„Leben, das Sinn hätte, fragte nicht danach“, sagt Adorno, und verweist darauf, dass Sinnerfahrung im Positiven sich vor allem im fraglosen Tun und intrinsischer Motivation, am Maß von Freude und Hingabe zeigt. Solange wir irgendeinen Sinn sehen in dem, was wir tun – auch ohne ihn benennen zu können – finden wir Grund zum Sein, und die Sinnfrage im existenziellen Sinn stellt sich nicht. Wenn sie aufbricht, dann nicht als philosophische Frage oder theoretisches Problem, sondern als Schmerz der Sinnlosigkeit und Verlust an spürbarem Bezug und Interesse, als Moment der Isolation und Leere.
Das verweist auf den Kern dessen, worum es bei der Suche nach dem Sinn eigentlich geht: darum, sich wieder auf den Weg zu machen, um Ausdruck zu finden und Verbundenheit zu erfahren. Um wieder gesehen und gehört zu werden, auch von sich selbst. Um sich wieder einschreiben zu können „ins Bezugsgewebe der Welt“, so Hannah Arendt. Analog zur Sprache, wo Sinn schlicht Kontextbezug bedeutet: Ein Satz zum Beispiel ergibt genau dann Sinn, wenn er im Kontext der Sprache und im Zusammenhang des Gesagten verstehbar ist.
Menschlicher Ausdruck kennt viele Sprachen und äußert sich auf sinnlich vielfältigen Ebenen. In Gesten und Körpersprache verständigen wir uns primär, daher ist ein Lächeln zwischen Fremden schon eine starke Kraft, und eine Umarmung ist viel. Vor allem bedarf es aber des Zuhörens: Wem Sinn fragwürdig wird, der soll sprechen, die anderen zuhören. Statt meist umgekehrt: Wem der Sinn wegbricht, der zieht sich zurück, verschließt sich, schweigt. Während die anderen Ratschläge erteilen, Sinnsprüche an die Hand geben. Oder wie Hiob sagt: „Schweigt vor mir, damit ich reden kann!“ (13, 13)
Gerade Bilder und Farben sind wirkmächtige Mittel der Kommunikation und Sinn-Deutung: Sie verleihen Dingen Ausdruck, machen Barrieren sichtbar und Ziele klar, wo Worte noch nicht greifbar sind. Unser Seminar „BEYOND WORDS. Blockaden lösen. Farbe bekennen. Ausdruck finden“ Mitte Februar befasst sich mit dieser Besinnung auf den eigenen Weg und Kompass jenseits der Worte.
Das erlaubt, sich wieder auszurichten auf die Frage nach den eigenen Ressourcen als Quellen und Erfahrungsorte von Sinn und Freude. Und die Orte wieder aufzusuchen, wo die Fülle im Augenblick und die Verbundenheit mit Dingen und Menschen möglich scheinen, die einem wertvoll und wichtig sind. Genau dafür geht der Sinn leicht verloren im Trubel des Alltags und in der Taktung der Welt.
Das ständige Zuviel verstellt den Blick auf neue Perspektiven und „den utopischen Gehalt der Zukunft“, wie Ernst Bloch formuliert: „Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.“ Aber nicht im fatalistischen Sinn einer blinden Hoffnung auf Rettung oder Untergang (als müsse man keine Verantwortung für die Zukunft übernehmen, weil sie kommt, wie sie kommt) oder im technokratischen Sinn einer naiven Hoffnung auf die berechenbare Welt (als könne man die Zukunft nach Wunsch und Willkür bauen), sondern Hoffen zu lernen auf das im menschlichen Maß Mögliche – im Spielraum persönlicher Verantwortung und sozialer Teilhabe.
Doch woher nimmt man Maß für das eigene Leben und für eine unseren Sinnbedürfnissen gerechtere Welt, wenn sie noch nie war, wie sie sein soll? Besonders die sogenannte Generation Y fragt sich das verstärkt. Benannt nach dem englischen why, zu Deutsch „warum“, steht der Name sinnbildlich für den grundlegend Sinn hinterfragenden Charakter, der dieser Generation zugeschrieben wird. Diese jungen, oft hoch qualifizierten Menschen nehmen Erwerbsarbeit zum Beispiel weit weniger ernst als früher, selbst in karriereträchtigen Berufsfeldern. Sie investieren mehr in Beziehungen und Erfahrung, suchen Sinn und Lebensziele neu zu orten.
Davon zeugt auch das aktuelle Quit Job-Phänomen, wonach Menschen kündigen, auch ohne neue Sicherheiten zu haben. Offenbar sind sie nicht mehr bereit, sinnentleerte Jobs in Kauf zu nehmen „für ein bisschen Struktur“, wie es in einem Lied von Jennifer Rostock (Weltbilder, 2017) heißt: „Wir nehm’n uns die Zeit und schneiden sie klein / Bis nichts davon bleibt außer Daten und Deadlines / Stell’n unser Leben nach Kalender und Uhr für ein bisschen Struktur“. Und der Refrain lautet – ganz im Umbruchscharakter der Zeit: „Aber was, wenn das alles nicht reell ist? / Wenn unser Weltbild nur ein Bild und nicht die Welt ist? / Aber was, wenn in Wirklichkeit die Realität ganz anders geht?“
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Text: Dr. Karin Hutflötz
Dieser Beitrag erschien im DA-Magazin Ausgabe 1-2023.
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