Krisenmodus – ein Wort, das die Gesellschaft für deutsche Sprache 2023 nicht umsonst zum Wort des Jahres gewählt hat. Man ist im „Krisenmodus“, so empfinden es jedenfalls viele Menschen um mich herum und fühlen sich überfordert.
Angesichts der aktuellen Krisen überrascht es und macht zugleich Mut, was die neueste Shell Jugendstudie zu Tage förderte: Die Jugendlichen blicken überwiegend optimistisch in die Zukunft. Das hatten auch die Herausgeber:innen der 19. Shell Jugendstudie nicht erwartet, die seit 1953 Einstellungen und Werte von Jugendlichen – diesmal waren es 2509 Personen im Alter von 14 bis 25 Jahren – in einer repräsentativen Umfrage ermittelt. „86% vertrauen darauf, dass eine bessere Welt möglich ist“, so die Studienverantwortlichen, „und 70% sind sich sicher, dass die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse durch eigenes Engagement beeinflussbar sind“ (Shell Studie Zusammenfassung, 17). Die Corona-Krise erlebten die Jugendlichen trotz aller Einschränkungen, die sie hart trafen, als „eine beispielhafte Erfahrung, wie eine Gesellschaft plötzliche Krisensituationen bewältigen kann“ (ebd., 31). 75% sind mit der Demokratie zufrieden, auch das Vertrauen in die zentralen Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht und die Polizei ist genauso wie das politische Interesse angestiegen, 55% bezeichnen sich als politisch interessiert.
Optimistisch, pragmatisch, tolerant, nicht extremistisch und nicht misstrauisch – so die Charaktereigenschaften der Jugend des Jahres 2024. Forscher:innen haben keinen Trend zu einem Rechtsruck feststellen können. Und dennoch bleibt das Bild ambivalent – wie der Untertitel der Studie nahelegt: „Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt“.
Denn trotz dieser positiven Grundhaltung sind es die Angst vor einem Krieg in Europa, die Sorge um die wirtschaftliche Lage und eine eventuell steigende Armut, die die Jugendlichen umtreiben. Zusätzlich zum Thema Klimawandel besorgt sie mit 64% ebenso die wachsende Feindseligkeit der Menschen. Klimawandel und gesellschaftlicher Zusammenhalt bleiben für alle Jugendlichen ein wichtiges Thema. Aber – und hier deutet sich ein gefährlich werdender Riss an – 55 Prozent sind der Meinung, dass die Maßnahmen des Staates nichts bringen. Außerdem: „Mehr als der Hälfte (56%) fehlt (…) das Vertrauen in die Einsicht ihrer Mitmenschen. Diese Jugendlichen nehmen es für sich so wahr, dass die als »richtig« und auch als »sozial wünschenswert« empfundenen eigenen Sichtweisen immer häufiger von anderen nicht geteilt werden“ (ebd., 17). So befürchtet ein Teil der jungen Menschen eine sich vertiefende Spaltung der Gesellschaft angesichts empfundener wachsender Armut und sinkender Lebensqualität (ebd., 31).
Angst vor Krieg, Sorge vor zukünftig weniger Lebensqualität und bei vielen auch um den Arbeitsplatz angesichts der derzeitigen Wirtschaftslage in Deutschland: Das ist die aktuelle Grundsorge vieler Menschen, mit der sich nicht nur Jugendliche überfordert fühlen. Und gleichzeitig geben die Antworten der jungen Menschen in der Studie eine Spur an, die uns weiterführen kann: Zuversicht, ihre Zukunft meistern zu können, geben vielen „die Ressourcen, die sie in sich selbst und in ihrem sozialen Nahbereich finden“ (ebd., 31f).
In diesen krisenhaften Zeiten und angesichts des drohenden Verlusts von Sicherheit, Wohlstand und Ordnung, brechen nicht umsonst bei vielen Menschen tiefere Fragen auf: Was trägt und hält, wenn alles brüchig wird? Was zählt in meinem Leben? Wo finde ich Sinn und Orientierung?
Viktor Frankl, Psychiater und Begründer der Logotherapie, fand heraus, dass Menschen, die eine Sinn-Perspektive und tragende Hoffnung für sich haben, nicht nur seelisch, sondern auch körperlich widerstandsfähiger sind. Dies ist wissenschaftlich mittlerweile nicht nur für Extremsituationen bestätigt.
Menschen, die ihre Stärken kennen und sich immer wieder vergewissern, was ihnen Halt und Boden unter den Füßen gibt, hinterfragen sich. Sie sind – so eine Studie der University of Waterloo – empathischer und uneigennütziger. Sie sind weniger anfällig für Vorurteile und bereit, die von ihnen abweichenden Sichtweisen ernst zu nehmen. Sie können Spannungen zwischen der Vielfalt von Standpunkten und dem Eintreten für den eigenen Standpunkt, die eigene Überzeugung besser aushalten: Wesensmerkmale für das Leben in einer offenen, vielfältigen, demokratischen Gesellschaft, die besonders da gebraucht werden, wenn es darum geht, für eigene Überzeugungen einzustehen, in Auseinandersetzung zu treten und Konflikte auszutragen.
Konflikte, so kann man in dem Buch „Triggerpunkte“ der Autoren Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser lesen, gehören grundsätzlich zur Demokratie und zu Prozessen des sozialen Wandels. Sie werden aber immer dann gefährlich, wenn sie nicht behandelt und befriedet werden. Dann sind sie so etwas wie „soziale Entzündungsherde“. Dies unterstreichen auch die Forschenden der im November 2024 erschienenen Autoritarismus-Studie der Uni Leipzig, die davor warnt, dass das Reden über Krisen eher zu deren Leugnung als zu deren Anerkennung und Lösung führt.
Laut Mau et al. in „Triggerpunkte“ findet Konfliktbefriedung dann statt, wenn Kompromisse für alle Beteiligten annehmbar und auf Dauer angelegt sind. Eine breite Beteiligung, aber auch faire Aushandlungen müssten dem Prozess zugrunde liegen und ebenso Gerechtigkeitsfragen als grundlegendes Fundament adressiert werden. Doch wie kann das heute gelingen: Breite Beteiligung, faire Aushandlung, um anschlussfähig zu sein an den Alltagssinn für Gerechtigkeit und Angemessenheit?
Als erstes braucht es die Bereitschaft, ohne Vorbehalte mit anderen in Verbindung zu gehen. Durch die wachsende Spaltung ist dieser erste Schritt eine Herausforderung und zugleich eine Gratwanderung. Wo Ressentiments herrschen, wo soziale Verachtung und der Hass durch rechtsra- dikales Denken dominieren, steht die politische Kultur auf dem Spiel. Die Soziologin Eva Illouz spricht von „undemokratischen Gefühlen“ wie Angst, Abscheu, Ressentiment und blindem Patriotismus. Dies führe zu einem Denken in Freund-Feind-Schemata und letztlich zu einer Entzivilisierung der Konfliktaustragung. Vieles, was noch vor kurzem als rassistisch und menschenverachtend galt, ist bis in die Mitte der Gesellschaft sagbar geworden.
Dass in Deutschland offene Ablehnung und Abwertung, v.a. gegen ausländische Mitbürger:innen, immer stärker werden, das belegt die Autoritarismus-Studie: Ausländerfeindlichkeit habe sich „zu einem bundesweit geteilten Ressentiment entwickelt“.
Ressentiments sind keine einheitlichen Gefühlslagen, sondern immer ein Gemisch aus unterschiedlichen Emotionen. Hier vermengen sich eigene Wut und Frustration, Angst vor Unbedeutendheit und ungenügende Anerkennung mit der Geringschätzung oder Abwertung anderer, mit Eifersucht und Neid gegenüber anderen. Um dieser oft damit einhergehenden Verbitterung zu entrinnen und mit diesen negativen Gefühlen weniger allein zu sein, scheint für viele der Weg in die Gruppe der Gleichgesinnten der einzige Ausweg zu sein. Nicht selten wird dabei dieses „Wir“ instrumentalisiert für politische Interessen, in denen nicht die Problemlösung oder das soziale Miteinander im Vordergrund steht, sondern die eigene politische Agenda und klare Eigeninteressen.
Ressentiments seien die gefährlichste Krankheit für die Demokratie, sagte einmal die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury. Wohin das letztlich führt, zeigt die verfahrene politische Situation in den USA aufs Deutlichste.
So hat der Chefredakteur der ZEIT, Giovanni Di Lorenzo, im Nachgang zu den US-Wahlen von den demokratischen Parteien gefordert, dass sie, um das Erstarken populistischer Parteien nicht weiter zu fördern, jene Stimmungen und Probleme wahrnehmen müssen, „die Menschen erst wütend machen und dann radikalisieren“ (Zeit 47/2024). Hier besteht angesichts des Erstarkens radikaler Parteien und der bevorstehenden Bundestagswahlen dringender Handlungsbedarf. Denn, so ist Di Lorenzo zuzustimmen, es gibt irgendwann „einen Kipppunkt, an dem diese politischen Kräfte nur noch schwer zu bekämpfen sind. Dann finden auch ihre sogenannten Informationskanäle immer mehr Gefolgschaft. Plötzlich gibt es omnipotente Unterstützer, die sich nicht mehr schämen, weil sie keinen Reputations- oder wirtschaftlichen Schaden mehr befürchten müssen, im Gegenteil. Das ist dann die Stunde der Opportunisten vom Schlage eines Elon Musk. Aus großer Spaltung wächst nur noch tiefere Spaltung“ (Zeit 47/2024). Ist dieser Kipppunkt nicht schon erreicht, ist kritisch anzufragen.
Den von Di Lorenzo genannten Kipppunkt vor Augen sind dringend eine ganze Reihe an entschlossenen Menschen aus der gesamten Zivilgesellschaft vonnöten, die es wagen, wirklich zuzuhören und mit Andersdenkenden in Verbindung zu gehen. Um zu neuen Praktiken des Zusammenlebens und der Verbundenheit zu kommen, brauche es, laut „Triggerpunkte“, eine ganze Bandbreite an Akteuren, um Vorbehalte abzubauen und die kulturellen Repertoires zur Thematisierung sozialer Ungleichwertigkeit zu verändern. Es bedürfe sozialer Interaktionskontexte, über die sich kulturelle Veränderungen und das Miteinander des Unterschiedlichen allmählich etablieren, denn ohne diese „Scharniere des gruppenübergreifenden Austausches“, ohne das Wirken der Zivilgesellschaft sei Integration durch Konflikt kaum denkbar.
Wie kann das gehen, stehen doch viele Verantwortliche, gerade auch in der politischen Bildung ratlos vor der Spirale von Polarisierung und Spaltung, die kaum Verständigung möglich macht? Es wird nicht gehen, ohne Menschen, die auf Gemeinschaft vertrauen und den ersten Schritt auf andere zugehen, ohne offenes Interesse und kreative Ideen, die Menschen erst einmal wieder zusammenbringen – und ich spreche noch nicht davon, dass sie schon an einem Tisch sitzen.
Mittlerweile werden viele „Unbubble-Formate“ erprobt. Formate, die helfen sollen, die eigene „Blase“ zu verlassen, in einen Austausch mit Menschen anderer Meinungen, Haltungen und Werte zu kommen. In Hannover lädt beispielsweise das Autor:innenzentrum und das Kulturbüro Hannover zum literarischen Projekt „Out of the Bubble“ ein. Gespräche und Literatur sollen anregen, sich auf Forschungsreise zum je anderen Pol zu begeben, laden ein zu Begegnungen außerhalb der eigenen Komfortzone. Bei Bedarf werden diese Prozesse von Mentor:innen begleitet.
Auch die Domberg-Akademie möchte im nächsten Jahr mit einem Unbubble-Format zu kreativen Begegnungen und Austausch mit Personen mit anderen Meinungen an- regen.
Wie das in einer ganz speziellen Weise sehr sinnenfällig unter besonderen Vorzeichen auch geschehen kann, zeigte der Theologe Massimo Faggioli: Er begann an der Universität Pennsylvania seine Vorlesung nach den US-Wahlen ganz ungewöhnlich, indem er seine Studierenden bat, Brote mitzubringen, sie zu teilen und gemeinsam zu essen. Damit wollte er verdeutlichen: Trotz aller Unterschiede ist es wichtig, aufeinander zuzugehen und das Leben miteinander zu teilen. Hier liegt der Auftrag gerade von uns Christ:innen: Nie die Hoffnung aufgeben, dass es möglich ist, Brücken zu bauen.
Ein wichtiger Baustein ist das Zuhören. Auch hier stehen wir wieder vor einem Dilemma: Wie geht zuhören und präsent sein beim anderen, wenn das, was man hört, so gar nicht mit der eigenen Sichtweise oder den eigenen Werten übereinstimmt? Wie geht es, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten, ohne dass das Gespräch seine friedliche Atmosphäre verliert oder das gegenseitige Verstehen gefährdet wird? Wie damit umgehen, wenn die eigenen Worte auf taube Ohren stoßen? Der neuseeländische Psychologe David Grove hat in den 1980er Jahren eine Fragesprache entwickelt, die „Clean Language“-Methode, die neue Zugänge zum Zuhören eröffnet. Wichtig ist es, so sein Konzept, mit dem Hören und der Wahrnehmung zu beginnen und zwischen dem, was bei der hörenden Person ankommt, und dem, was diese erwidert, einen sogenannten „goldenen Raum“ entstehen zu lassen. In diesem Raum kann man mit hoher Sensibilität für die eigenen Gefühle unterscheiden zwischen dem, was das Wort bei einem selbst auslöst und den eigenen Annahmen, und dem, was das Gegenüber wirklich meint. Daher sind in Unbubble-Formaten immer wieder Moderator:innen wichtig, die unterscheiden können zwischen dem, was das Gesagte auslöst und den Inhalten des Gesagten.
Wenn junge Menschen gefragt werden, was ihre wichtigsten Lebensziele sind, so haben laut Shell Jugendstudie stabile Beziehungen, Freundschaft und Familie mit deutlich über 90% den höchsten Stellenwert. Eine Glücksstudie der Harvard University unterstreicht zudem einmal mehr: Soziale Bindungen sind für Glück und Zufriedenheit wichtiger als Reichtum und Ruhm.
Dabei können wir viel von den Finnen lernen, die nach wie vor zu den glücklichsten Menschen gehören. Der kanadische Ökonom und Mitforschende am Weltglücksreport, John F. Helliwell, betont, dass ein wesentliches Element dafür sei, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und die Zufriedenheit wesentlich mit der gleichzeitigen Zufriedenheit anderer zusammenhängt.
Finnisches Glück lässt sich so ins Wort bringen: Vertrauen in Mitmenschen und in den Staat, ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn und Chancengleichheit insbesondere bei Bildung und Gesundheitsversorgung. „Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben“, so die finnische Einmütigkeit. Von einer solchen Stimmung sind wir in Deutschland weit entfernt. Grund dafür, so die Psychologin Judith Mangelsdorf, ist die gesunkene mentale Gesundheit, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Dem gilt es vermehrte Aufmerksamkeit zu widmen.
Aleida und Jan Assmann weisen in ihrem Buch „Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn“ darauf hin, dass die Goldene Regel Quellen in allen Kulturen besitzt. Nennen wir es gesellschaftlicher Zusammenhalt, Gemeinsinn oder Solidarität als Begriffe mit unterschiedlichen Ausgangs- und Endpunkten, die „resiliente Demokratie braucht kein Feindbild, aber einen klaren Sinn für das, was Menschen miteinander verbindet und zusammenhält. Sie hat Platz für Streit, Skepsis und Kritik“ (Assmann, 227). Eine starke Demokratie braucht Engagement und Gemeinsinn, die Bearbeitung realer sozioökonomischer Probleme, Menschen, die ermutigen und neue Initiativen wagen, Menschen, die ihre Komfortzone verlassen und in Verbindung gehen. Menschen, deren Kompass die unveräußerliche Menschenwürde ist.
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Text: Dr. Claudia Pfrang