In der Bayerischen Landesausstellung wird Geschichte lebendig, die Ausstellung regt zum Nachdenken über Wandel und Verantwortung an. Autor Dr. Stephan Mokry beschreibt seine Begegnung mit einer faszinierenden Rekonstruktion eines Geistlichen aus dem 7. Jahrhundert. Dies inspiriert dazu, Parallelen zur heutigen Zeit und ihren Herausforderungen zu ziehen. Was braucht es, um heute Vorbild zu sein?
Was ist denn das für ein cooler Typ!? – So mein erster Gedanke, als ich den mittelgroßen Mann in der Mitte des Raumes mustere, dem ein verschmitztes Lächeln um die Mundwinkel zu spielen scheint. Ihn umgibt eine sympathische Aura, zugleich wirkt er etwas entrückt oder von einer anderen Welt, was an seinem durchaus stylisch zu nennenden, individuell-alternativen Äußeren liegen mag: auffälliger Gürtel mit großer, ornamentverzierter Schnalle; eine helle Weste in Kurzfell-Optik; braune, riemengebundene Lederstiefel; eine Dokumentenmappe oder Notebook-Tasche aus Leder lässig in der Hand; ungewöhnlich das am Gürtel hängende Messerholster, außerdem Handschuhe – dazu ein Stecken, wie ein Wanderstab, mit ganz leichter Krümmung, der sich als alternatives „Mode-Accessoire“ gut ins Gesamtbild einfügt. Er wirkt wie einer der modernen „Arbeits-Nomaden“, die mit ihrem Laptop auf Wanderschaft gehen und überall auf der Welt z.B. als Influencer ihr Wirkungsfeld finden. Gut, wir waren vorgewarnt worden. Wir? Die Besuchergruppe der Domberg-Akademie, die unter kundig-kurzweiliger Führung von Prof. Christof Paulus vom Haus der Bayerischen Geschichte die Bayerische Landesausstellung in Freising besuchte. Vorgewarnt hatte uns Paulus, dass wir zwei „historischen“ Gestalten begegnen würden, die den Stand der Rekonstruktionstechnik widerspiegeln, wie sie sich in den letzten knapp 10 Jahren entwickelt hat. Die erste Gestalt war ein römischer Legionär, der überraschend vertraut wirkte mit seinem Schild, Speer und Helm – wahrscheinlich sind seit den unbeugsamen Galliern und ihren Comic-Geschichten Legionäre einfach so was wie Allgemeingut bei uns; und obwohl er so beeindruckend auf uns herabschaute, er war als „Puppe“ erkennbar, schlug mich wohl deshalb nicht so sehr in den Bann. Umso mehr überraschte mich eben die eingangs geschilderte Reaktion auf die zweite Gestalt. Wer war der Mann, der irgendwie so unerwartet modern und cool, einfach so lebendig-beseelt wirkte in einer Ausstellung, die sich eigentlich Bayern vor rund 1300 Jahren widmete? Ich staunte nicht schlecht und musste mir ein Schmunzeln unterdrücken, als ich den Beschreibungstext las. Das Äußere war rekonstruiert anhand der in den Vitrinen ausgestellten Grabungsfunde aus Augsburg. Für die Archäologie wie die Geschichtsforschung könnte so ein Geistlicher im 7. Jahrhundert ausgesehen haben.
So viel also zum geschichtlichen Wandel im Lauf der Jahrhunderte: Blickt man sich heute bei den im Sommer durchgeführten Priesterweihen um, so fällt mindestens das obligatorische schwarze Hemd mit weißem Priestereinsteckkragen als Standeskleidung bei den Neugeweihten auf, wenn nicht sogar gleich die schwarze Soutane. Gut, die Rekonstruktion in der Ausstellung bleibt nicht wenig Hypothese. Aber sie regt an, die Gedanken kreisen zu lassen – wie übrigens die ganze Landesausstellung. Sie regt an, sich die letzten 1300 Jahre Entwicklung vor Augen zu führen – und bringt mich zur Erkenntnis, dass wir aktuell zwar in einer vor vielen Herausforderungen stehenden Zeit leben, aber auch – zumindest in unseren Breiten – in einer Zeit der Sicherheit und des Wohlstands, wie wir sie eigentlich noch nie hatten, erst recht nicht im 7. und 8. Jahrhundert. Die Ausstellung weckt bei mir das Bewusstsein dafür, dass diese Zeiten auch rasch wieder vorbei sein können. Gar nicht so sehr wegen eines heraufbeschworenen, angeblichen geschichtlichen Automatismus oder irgendwelcher historischer Notwendigkeiten im Lauf der Geschichte – sondern einfach, weil wir nicht genügend aufpassen und nicht handeln, wenn es notwendig wäre.
Da steht mir wieder der Geistliche, dieser Influencer Gottes vor Augen: Er und die vielen tatsächlichen historischen Akteure, wie sie am Anfang unserer Kirchenstrukturen stehen, haben angepackt, Dinge bewegt, Verantwortung übernommen, auch wenn es oft mehr als abenteuerlich gewesen sein muss – und das nicht nur in der Kirche, sondern oft auch darüber hinaus. Sie waren offenkundig irgendwie beseelt, dass sie wirklich eine frohe Botschaft haben, die auch mit dieser Welt etwas zu tun hat. Und nicht umsonst sind diese Akteure rasch als Heilige verehrt worden – nicht, weil das irgendwann nach strengem Verfahren in Rom so entschieden wurde, sondern weil es die Menschen vor Ort so entschieden haben, durch ihre Verehrung. Da war also etwas an ihnen, das besonders authentisch war, das die Nähe Gottes erfahrbar werden ließ. Auch heute gibt es diese Menschen, Männer wie Frauen, Geweihte und Nicht-Geweihte. Aber werden sie genügend gesehen und gehört in den gegenwärtigen Transformationsprozessen, in denen Kirche, Glaube und Gesellschaft stecken? Manche meinen auch, man müsse sie immer mehr vergeblich suchen. Kein Wunder, der Frust ist bei vielen Gläubigen auch einfach sehr groß: Wenig bewegt sich, Besitzstandswahrung herrscht mehr als Aufbruch und Zugehen auf die Welt und die Menschen. Der Exodus aus der Kirche hält bekanntlich an.
Beim Gang durch die Landesausstellung denke ich mir öfters: Wie würde eine Ausstellung in einigen hundert Jahren auf unsere Zeit zurückblicken? Über die Inhalte ließe sich nur spekulieren. Doch insofern man dann immer noch den Wissenschaften und ihren Fakten traut, wären sie wahrscheinlich genauso informiert, wie es die Wissenschaftler:innen in der Vorbereitung auf diese Ausstellung bewerkstelligt haben oder etwa die Vorträge und Publikationen des Vereins für Diözesangeschichte von München und Freising sind. Sie zeigen: Geschichte kann spannend und interessant sein, und die Beschäftigung mit ihr weckt das Bewusstsein, dass nichts in Stein gemeißelt ist für die Ewigkeit und oftmals genau dasjenige verschwindet, was sich als nicht genügend wandelbar erwiesen hat. Wie oft ging man davon aus, dass eine Epoche oder Gesellschaft niemals untergehen könne? Die Geschichte des Frühmittelalters zeigt ein anderes Bild, das eines erstaunlichen Wandels voller Dynamik. Darüber kann bei einem oberflächlichen Blick die Ausstellung auch hinwegtäuschen, indem sie den Eindruck erweckt: von Anfang an war Bayern christlich, und das wird immer so sein… Ich ertappe mich dabei, dass ich mir für einen Moment so einen coolen Typen wünsche, wie er in der Ausstellung steht, dessen Stock und Stab Zuversicht ausstrahlt, der wie ein Hirte auf grüne Auen der Erquickung führt, der mit Augenmaß, Weitsicht und Elan Wege in die Zukunft weist. Der spürbar werden lässt, was in Jes. 40,31 steht: „Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt.“ – Aber warum nur wünschen? Ist das nicht ein Verschieben der Probleme? Vielleicht sollte man mit dem Tun einfach anfangen und dabei selbst zum Vorbild werden, zu Akteur:innen, an denen sich andere orientieren können: egal, ob es um Bewältigung der Klimakrise geht, um die Sicherung demokratischer Werte und der Menschenwürde oder um die Zukunft von Glaube und Kirche. Und ich bin mir sicher: hier sind etliche Menschen dabei, die man vor 1300 Jahren als Heilige verehrt hätte und deren Nähe und Begleitung in den Herausforderungen der Zeit als wertvoll erfahren werden – obschon man sich natürlich vor den Wölfen im Schafspelz stets hüten muss!
Apropos Heilige: Was es mit der besonderen Gürtelschnalle des Geistlichen auf sich hat: die Landesausstellung verrät es bis zum 3.11.2024!
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Text: Dr. Stephan Mokry