Die Kirchen- und Glaubenskrise verschärft sich – und die Frage drängt: Kann aus ihr etwas Neues entstehen? Das hängt u.a. davon ab, ob Christ:innen aufhören, auf große Reformen „von oben“ zu warten und selbst aktiv werden, meint Dr. Thomas Steinforth.
Der Glaube – so scheint es – ist schwach geworden. Immer mehr Menschen treten aus. Aber auch viele, die in der Kirche bleiben, sind nicht nur unzufrieden mit der Kirche. Sie hegen auch Zweifel an so manchen verkündeten Glaubenswahrheiten. Die Zweifel können durchaus „ans Eingemachte“ gehen, bis hin zur Frage, ob es Gott überhaupt gebe. Die Kirchen- und Glaubenskrise ist nicht wirklich neu, verschärft sich aber – Kardinal Marx hat von einem „toten Punkt“ gesprochen. Was also tun? Dazu ein paar Hinweise – unvollständig und stichwortartig:
„Die Kirche muss endlich so gestaltet werden, dass sie nicht mehr lebensfeindlich und evangeliumsverdunkelnd ist, sondern lebensförderlich und evangeliumsgemäß auf die Welt einwirken kann“, so Johanna Beck in „Christ in der Gegenwart“. Alles Bemühen um die sogenannte „Neuevangelisierung“ scheitert, wenn diese Bedingung ignoriert oder auf die lange Bank geschoben wird.
Wenn sich die Kirche nicht endlich glaubhaft bemüht, lebensfeindliche und diskriminierende Positionen, Praktiken und Strukturen zu überwinden, werden sich immer mehr Menschen von ihr abwenden – auch und gerade solche, denen die Botschaft Jesu am Herzen liegt.
Damit die Botschaft ihre „lebensförderliche“ Kraft entfalten kann, müssen wir auf diejenigen hören, die unter der Kirche leiden. Dabei geht es um die vielen Überlebenden sexuellen und spirituellen Missbrauchs, die immer noch auf umfassende Aufarbeitung und angemessene Entschädigung warten. Es geht aber auch um alle Menschen, die durch die Kirche diskriminiert werden.
Sie können uns „ex negativo“, also aus leidvollen Erfahrungen heraus neu bewusst machen, worin positiv die christliche Botschaft besteht. So hat z. B. die Initiative #OutInChurch neu bewusst gemacht, dass die Kirche die befreiende, in ein lebendiges Leben und Lieben rufende Botschaft Jesu verkünden und leben soll. „Irgendwie“ mögen wir das schon gewusst haben – rundum handlungsleitend war dieses Wissen jedoch nicht.
Es geht nicht darum, Leiderfahrungen für die eigene Reformagenda zu instrumentalisieren – es geht darum, Menschen zuzuhören und das Gehörte nicht als Anlass für wohlfeile Entschuldigungsrhetorik, sondern als Ruf zur echten, auch institutionellen Umkehr zu hören.
Wir sollten die Krise nicht als bloßen Verfallsprozess bejammern – so als sei es in Zeiten voller Kirchen und stabiler katholischer Milieus schlechthin christlicher zugegangen. Vor allem sollte die Kirche aufhören, den Menschen pauschal Bequemlichkeit, Schwäche, Müdigkeit oder Gleichgültigkeit zu attestieren. Manches Reden über „Neuevangelisierung“ unterstellt, man müsse die Gläubigen und die Gemeinden nur ordentlich aktivieren und vitalisieren, und dann werde schon alles wieder in Schwung kommen.
Wir müssen genauer hinschauen: Dass der Glaube an Gott und dass tradierte Gottesbilder längst ihre Selbstverständlichkeit verloren haben, schließt keineswegs aus, dass viele Menschen fragen und suchen, dass sie etwas ersehnen und vermissen – und zwar etwas, das sie nicht finden in einem naturalistisch verkürzten Welt- und Menschenbild, in einer ökonomistischen Mentalität, für die nur zählt, was sich auszahlt, oder in Sinn- und Deutungsangeboten, die weder trösten noch sättigen. Statt sofort mit fertigen Antworten zu kommen, sollten wir diese oft verborgenen Fragen und Suchbewegungen wahrnehmen und als solche – als Fragen und als Suche – ernst nehmen.
Im Sinne des Religionsphilosophen Tomáš Halík sollten wir mit den Fragenden fragen und mit den Suchenden suchen. In Seelsorge und Verkündigung, in der Ermöglichung spiritueller Erfahrungen oder in der Bildungsarbeit: Es geht darum, die Frage nach Gott offenzuhalten und Menschen in ihrem Fragen und Suchen zu begleiten.
Wer Suchende und Zweifelnde begleiten will, muss auch eigene Zweifel zulassen. Eine allzu sichere Glaubensgewissheit, die nicht mehr sucht und immer schon Bescheid weiß, wirkt eben nicht überzeugend (oder nur für wenige). Die Kirche, so die Theologin Johanna Rahner 2019 in einer Predigt, ist auch deshalb „unglaubwürdig geworden, weil sie mit ihrem erschütterungsfreien und verblüffungsresistenten Katechismuswissen, mit ihrer selbstsicheren Gewissheitssprache, die existentielle Not des Gottvermissens nicht mehr kennt.“ Sich mit der eigenen Überzeugung, aber auch eigenen Zweifeln in einen Dialog mit Zweifelnden zu begeben, in dem alle in aller Freiheit ihren Weg finden können (sei es innerhalb oder außerhalb der Kirche) – nicht zuletzt darum geht es.
Im gemeinsamen Zweifeln sollten wir radikales, an die Wurzeln gehendes Fragen, nicht scheuen. Sehr weit geht der amerikanische Religionsphilosoph John D. Caputo, der in einem kürzlich übersetzten Buch „Die Torheit Gottes“ selbst zentrale Glaubensaussagen (z. B. Gott als höchstes, allmächtiges Wesen) dekonstruiert – bis hin zur Frage, ob man nicht auch die Rede von Gottes „Existenz“ aufgeben müsse: „Gott existiert nicht, er insistiert“, so eine typische Formulierung Caputos. Gott begegne uns „nur“ im unbedingten „Ruf“, das Reich Gottes zu suchen und daran zu arbeiten, ohne dabei mit dem Eingreifen eines allmächtigen Gottes rechnen zu können.
Das Buch mag verunsichern. Es kann aber anregen, einen radikalen Zweifel zu wagen, der nicht gottlos machen muss, jedoch helfen kann, scheinbar selbstverständliche, aber doch zu enge Bilder und Konzepte von Gott loszuwerden und Gott immer wieder neu zu denken. Diesem Zweifel gibt die Domberg-Akademie Raum – z. B. in Modulreihe Reihe GOTT.neu.denken. Wer angesichts der Glaubenskrise den Menschen Glauben nahebringen will, darf keine falschen Versprechungen machen: Glaube, das wusste schon Karl Rahner, heißt nicht zuletzt: „Die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten“.
In Reformdebatten heißt es oft, wir sollten uns auf das „Eigentliche“ konzentrieren. Die Kirche sei eine NGO geworden, die sich im Sozial- und Umweltbereich engagiere und in politischen Debatten einbringe, dabei aber das „Eigentliche“ vernachlässige und sich zu wenig um die persönliche Gottes- und Christusbeziehung und um das (ewige) Heil der Gläubigen sorge. Das soziale und politische Engagement sei lobenswert, müsse aber aus dem „Eigentlichen“ folgen und sei insofern sekundär. Diese Forderung, sich auf das so verstandene „Kerngeschäft“ zu fokussieren, führt jedoch in die Irre:
Wer die christliche Botschaft vorrangig als Jenseitsverheißung missversteht und noch dazu auf das je individuelle Seelenheil verkürzt, verkennt den Ruf des Evangeliums, in weltverändernder Absicht und in gerechter und liebevoller Praxis das Reich Gottes zu suchen. Der Dienst am Nächsten und an gerechteren Strukturen folgt nicht erst aus dem Gottesdienst (verstanden als Eucharistie, Gebet, Lobpreis…), sondern ist Gottesdienst. Und: Gott spricht nicht nur vom Ambo oder Altar: Wenn wir uns mitten im Alltag in eine unbedingte Verantwortung gerufen fühlen (für unsere Nächsten, für die Armen, für die Schöpfung), hören wir den Ruf Gottes, dann können wir ihm begegnen – ohne dass das immer reflexiv bewusst sein muss.
Ob aus der Kirchen- und Glaubenskrise Neues entstehen kann, hängt davon ab, ob Christ:innen aufhören, auf große Reformen „von oben“ zu warten, sondern selbst aktiv werden (oder bleiben): im Offenhalten der Frage nach Gott, im gemeinsamen Suchen mit den Suchenden und in der Suche nach Gott gerade dort, wo nicht ständig „Herr! Herr!“ gerufen, sondern Liebe gelebt und Gerechtigkeit geübt wird.
Macht und Einfluss der Kirche lassen sich dadurch kaum steigern, das Reich Gottes aber könnte wachsen. Dass letzteres vielen Menschen innerhalb (und auch im „Außen“) der Kirche wichtiger ist als die Restauration verklärter Vergangenheit; dass es viele Menschen gibt, die in Seelsorge, Verkündigung, Bildung, diakonischem Handeln und politischem Engagement im skizzierten Sinne suchen, fragen und handeln: Das gibt Hoffnung, dass die Glaubenskrise ein Anfang sein kann.
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Text: Dr. Thomas Steinforth