„Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht!“ Das sagte Außenministerin Annalena Baerbock nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Wer in einer anderen Welt aufwacht, muss sich neu orientieren. Welche Annahmen, wie es in der Welt zugeht und zugehen sollte, treffen noch zu? Welche Ideale passen noch in die „andere Welt“?
Man mag darüber streiten, ob wir in eine andere Welt geraten sind. Vielleicht nötigt uns der aktuelle Krieg aufgrund seiner Nähe „nur“, Realitäten wahrzunehmen, die wir im westlichen Europa bislang ausblenden konnten, was für ein Privileg! In anderen Regionen leiden viele Menschen in weitgehend vergessenen Kriegen. Für sie ist die „andere Welt“ die gewohnte Realität. Und auch für Europa ist nicht alles anders geworden: Der Ukraine-Krieg ist nicht der erste Krieg in Europa seit 1945 – man denke nur an die Jugoslawien-Kriege in den 90er-Jahren mit über 200.000 Toten.
Dennoch: Die Rede von der „anderen Welt“ oder von der „Zeitenwende“ trifft einen richtigen Punkt. Die politische Lage hat sich spätestens mit Kriegsbeginn grundlegend verändert, die „europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur liegt bereits in Trümmern“, sagt Nicole Deitelhoff, Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Scheinbare Selbstverständlichkeiten sind dahin, manche Überzeugungen und Ideale sind fragwürdig geworden. Was aber machen wir mit unseren Idealen, wenn sie uns in der (neuen) Realität keine Orientierung mehr geben können, problematisch oder unrealistisch erscheinen? Muss ich persönlich umdenken – und müssen wir gemeinsam und politisch umdenken?
Der Begriff „Umdenken“ greift dabei noch zu kurz: Echte (nicht nur behauptete) Ideale und Wertorientierungen sind emotional aufgeladen. Ohne diese emotionale Aufladung hätten sie keine handlungsleitende Wirkung. Wenn Ideale fraglich werden, sind wir also nicht nur „im Kopf“ herausgefordert – es steht etwas auf dem Spiel, was uns „am Herzen“ liegt. Und da kann es ängstigend und schmerzhaft werden – oder auch kontrovers:
Viele erinnern sich an den Parteitag der Grünen, auf dem sich 1999 der damalige Außenminister Joschka Fischer für eine Beteiligung am militärischen Kosovo-Einsatz der NATO aussprach – ein lautstarker Streit entbrannte, ein Farbbeutel zerplatzte im Gesicht des Ministers. Das Bild hat sich eingeprägt – ein Bild für die heftigen Konflikte, die ausbrechen können, wenn Grundhaltungen (in diesem Fall der Pazifismus) zur Disposition gestellt werden.
Wie sollten wir persönlich wie politisch damit umgehen, wenn Ideale fraglich geworden sind und wir in einen Zwiespalt zwischen Idealen und (veränderten) Realitäten geraten?
Folgende Fragen scheinen mir hilfreich zu sein:
Welche Ideale und Werte orientieren und motivieren uns tatsächlich? Personen, Gruppen und ganze Gesellschaften können sich in diesem Punkt viel vormachen. Ein Beispiel: Oft heißt es, in Deutschland müssten im Zuge der „Zeitenwende“ starke und weit verbreitete pazifistische Haltungen überwunden werden, da diese in einer nicht idealen Welt mit kriegsbereiten Aggressoren keine Orientierung bieten. Allerdings: Wie pazifistisch sind „wir Deutschen“ bislang tatsächlich gewesen? Gerne wird auf die Nicht-Beteiligung Deutschlands am Zweiten Irakkrieg verwiesen: Rund 80 Prozent der Deutschen unterstützten 2002 das „Nein“ des Bundeskanzlers. Generell scheint die deutsche Gesellschaft „dem Militärischen“ eher reserviert gegenüberzustehen. Und gab es nicht in den 80er-Jahren riesige Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss?
Allerdings: Welche Rolle hat die Friedensbewegung danach noch gespielt? Die Auslandseinsätze der Bundeswehr seit 1990 stoßen auf keinen breiten Widerstand. Auch wenn die Lieferung von Waffen in ein akutes Kriegsgebiet ein Novum darstellt: Deutschland ist einer der größten Rüstungsexporteure der Welt, 2021 erreichten die Ausfuhren einen Rekordwert. Das alles kann man ethisch und politisch unterschiedlich bewerten, lässt aber doch daran zweifeln, ob es in Deutschland bislang einen starken pazifistischen Grundkonsens gab. Vielleicht haben wir es uns nur bequem unter dem Schutzschild atomarer Abschreckung eingerichtet, uns allzu sicher gefühlt und alle damit verbundenen Fragen ausgeblendet. Dann geht es jetzt in der „anderen Welt“ mit ihrer offensichtlichen Unsicherheit weniger darum, ein Ideal zu überwinden, als – wie man gerne sagt – „uns ehrlich zu machen“ und bewusst Position zu beziehen, welche auch immer.
Veränderte Realitäten sind also eine Herausforderung, uns zu fragen, was uns wirklich wichtig und wertvoll ist, an welchen Idealen wir uns tatsächlich und künftig orientieren wollen.
Pazifismus im strikten Sinne bezeichnet eine Grundhaltung, die Gewaltanwendung und insbesondere den Einsatz von Waffen grundsätzlich ablehnt. Auch wenn ein Staat angegriffen wird, Menschen an Leib und Leben bedroht und grundlegende Rechte verletzt werden, sei eine Verteidigung mit militärischen Mitteln unzulässig. Notwendig seien vielmehr die kriegsvermeidende Arbeit für einen „gerechten Frieden“ und im Konfliktfall „aktive Gewaltfreiheit“. Diese reicht von der Verweigerung der Zusammenarbeit über Protest bis hin zu Formen zivilen Widerstands. Oft genannte Vorbilder sind Martin Luther King (gewaltfreier Kampf gegen rassistische Unterdrückung) und Mahatma Gandhi (Befreiungskampf gegen eine Kolonialmacht).
In einer veränderten Realität kann ein bis dahin geschätztes Ideal auf einmal als problematisch oder gefährlich erscheinen. Was, wenn ein Handeln zwar aus bester Absicht heraus erfolgt und ein hehres Ideal realisieren will, jedoch ungewollte negative Folgen hat? Zum Beispiel: Nicht wenige, die aus Überzeugung den Wehrdienst verweigert haben und an das Prinzip „Frieden schaffen ohne Waffen“ glauben, sind mit Blick auf den Ukraine-Krieg ins Grübeln gekommen. Kann ich an einem Ideal festhalten, wenn Menschen dadurch gegenüber einem brutalen Aggressor wehrlos bleiben? In diesem Sinne stellt Jost Maurin, Redakteur der taz, fest: „Es tut weh, mir nach Jahrzehnten, in denen ich mich als Pazifist definiert habe, einzugestehen: Wahrscheinlich muss Deutschland wirklich das ukrainische Militär mit allen nötigen Waffen ausstatten – bezahlt auch mit meinen Steuern.“
Die Bereitschaft, Ideale und Überzeugungen selbstkritisch und mit Blick auf Dritte zu prüfen und unter Umständen schmerzhafte Konsequenzen zu ziehen („Es tut weh!“), ist unerlässlich für eine verantwortliche Lebensführung. Wer die möglichen Folgen seines Handelns nicht genügend abwägt, kann sich ohne böse Absicht schuldig machen gegenüber Menschen, die unter den Folgen zu leiden haben.
Allerdings sollten wir auch der Versuchung widerstehen, fraglich gewordene Ideale ohne Unterscheidung und Abwägung einfach über Bord zu werfen und ins andere Extrem zu verfallen. Radikalpazifismus ohne Blick auf die Folgen mag sich angesichts des aktuellen Krieges als unverantwortlich erweisen – deswegen sollten wir aber nicht zu Bellizist:innen werden, die die Möglichkeiten militärischer Mittel ebenso überschätzen wie verharmlosen. Ganz ohne Waffen lässt sich zwar ein gerechter Friede nicht erreichen und bewahren. Zugleich aber führt es ins Verderben, sich Sicherheit und Frieden vorrangig oder gar allein von Waffen zu erhoffen. Dem Pazifismus wird oft vorgeworfen, unrealistisch zu sein. Bellizistische Waffenbegeisterung mit Geringschätzung politischer und diplomatischer Bemühungen ist es nicht minder!
Gerade eine christliche Friedensethik könnte dazu beitragen, den Pazifismus nicht schlechthin zu verwerfen, sondern realistische Wege zum Frieden „jenseits der Waffen“ zu finden. Einerseits traut sie dem Menschen viel zu – entsprechend hoch sind die Anforderungen: Wir sollen uns stets um einen konfliktvermeidenden gerechten Ausgleich der Interessen bemühen („gerechter Friede“), im Konfliktfall so weit möglich auf aktive Gewaltfreiheit setzen und auch die Menschen, die uns Böses tun, niemals nur als Feinde betrachten und bereit zur Versöhnung sein. Zugleich weiß eine christliche Ethik sehr realistisch, wozu der Mensch auch im Schlechten fähig ist. Wenn sich bewaffneter Aggression und drohenden Gewaltexzessen nicht anders begegnen lässt, wird sie im Sinne der (potenziellen) Opfer eine zu Waffen greifende Abwehr als ultima ratio nicht schlechthin verurteilen können.
Was all das konkret bedeutet, noch dazu in einer „fragilen Welt“ (so der Sozialethiker Markus Vogt), lässt sich nur in schwierigen Abwägungsprozessen entscheiden, die nur selten einfache Antworten zulassen. Und vermutlich müssen wir angesichts neuer Realitäten auch bereit sein, die christliche Friedensethik der von Vogt geforderten kritischen „Revision“ zu unterziehen – was eben nicht bedeutet, das Leitbild des „gerechten Friedens“ zu verabschieden und den Krieg wieder als Mittel der Politik zu betrachten.
Ideale können auch dadurch fraglich werden, dass sie plötzlich als völlige Überforderung erscheinen. Viele Christ:innen würden zum Beispiel grundsätzlich zustimmen, dass wir auch unsere Feinde lieben sollen. Solange wir in einer sicheren Welt leben und allenfalls „normale“ Konflikte in privaten und beruflichen Beziehungen erleben, erscheint uns das vielleicht sehr herausfordernd, aber doch machbar.
Was aber, wenn wir oder uns nahestehende Menschen tatsächlich in existenzieller Weise bedroht werden? Oder wenn wir tagtäglich in den Medien sehen, wie unschuldige Menschen in der Ukraine in die Flucht getrieben, verletzt und getötet werden? Ist es dann nicht zu viel verlangt, die Feinde zu lieben? Können wir das? Und wenn wir es nicht können, wie sinnvoll ist dann das Gebot? Moralphilosophisch gesagt: „Wo kein Können, da kein Sollen!“
Auch hier wäre es falsch, ein Ideal schlicht zu verwerfen. Zunächst müssen wir genau hinschauen: Was genau verlangt das Ideal, wenn es heißt „Liebe Deine Feinde“? Sinnlos, weil nicht realisierbar, wäre das Gebot, bestimmte Gefühle nicht zu haben oder gar Wohlwollen zu empfinden. „Die Brutalität der russischen Armee ist so schrecklich und grenzenlos, dass alle emotionalen Reaktionen der Menschen in der Ukraine verständlich sind: Wut, Hass, Frustration, der Ruf nach Rache. Sie wünschen dem Feind den Tod, sie verfluchen ihn.“ So beschreibt es Lidija Losowa, eine Theologin der Orthodoxen Kirche der Ukraine, auf einer Veranstaltung der Domberg-Akademie im April.
Solche Gefühle – wer hätte sie nicht in einer vergleichbaren Situation? Recht verstandene Feindesliebe ist wohl eher ein Handeln, das sich zwar zur Wehr setzt (notfalls mit Gewalt), sich aber nicht vom Hass dominieren lässt und den Feind nicht darauf reduziert, ein Feind zu sein: „Auch im Feind erscheint das Ebenbild Gottes“, so Losowa, die deshalb gewaltsame Verteidigung für eine „tragische Notwendigkeit“ hält, die zwar unvermeidlich, aber „moralisch unvollkommen“ sei. Vielleicht wird uns aktuell etwas neu bewusst, das eigentlich nichts Neues ist: Dass es manchmal keine moralisch vollkommenen Lösungen gibt, wir aber alles tun sollen, die bestmögliche Option zu wählen.
Manche moralischen Ideale lassen sich niemals perfekt realisieren. Wir können niemals eine rundum gerechte Gesellschaft erschaffen und können nicht mit allen Menschen solidarisch sein, die unserer Solidarität bedürfen. Ein fataler und bequemer Fehlschluss wäre es, deshalb solche Ideale und damit auch Maßstäbe der Kritik und die Richtung der Verbesserung aufzugeben. Auch ein Ideal, dem wir uns nur annähern können, kann Orientierung geben!
„Prüfet alles, das Gute behaltet!“, mahnt Paulus (vgl. 1 Thess 5,21). Wer in einer „anderen Welt aufwacht“, muss bereit sein, seine Ideale und Wertorientierungen kritisch zu prüfen – ohne sie vorschnell zu verwerfen. Sorgsames Unterscheiden ist gefragt!
Was mit Blick auf persönliche Ideale schon anspruchsvoll ist, wird noch herausfordernder, wenn wir uns politisch verständigen müssen. Wir können unsere persönlichen Ideale nicht einfach zur Maßgabe für politische Entscheidungen machen, wir brauchen den offenen, streitbaren Kurs und Verständigung.
Die Domberg-Akademie unterstützt mit dem Saisonthema FRIEDEN KRIEGEN beides: die persönliche Reflexion und Weiterentwicklung, aber auch den gesellschaftlichen Diskurs. Beides brauchen wir, damit wir anhand unserer Ideale Leben und Welt gestalten können.
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Text: Dr. Thomas Steinforth
Dieser Beitrag erschien im DA-Magazin Ausgabe 3-2022.
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