Passiert Ihnen das seit einiger Zeit auch immer öfter? Sie wollen ein Anliegen am Telefon klären, aber am anderen Ende der Leitung wartet eine
automatische Stimme, eine Maschine, die ihr Ansuchen entgegennimmt. Zum Abschied wünscht Ihnen die Stimme einen angenehmen Tag.
Einen angenehmen Tag?
Diese Vorstellung hinterlässt bei mir ein Gefühl zwischen Amüsement und Verzweiflung: Eine Maschine simuliert Empathie. Das ist im besten Falle nett gemeint, doch dieser künstliche Akt der Verbundenheit ersetzt kaum, was ein echter menschlicher Austausch erreichen kann. Ist das also die Welt, in der wir leben wollen? Wo ist unser Sinn für wahrhaftige Verbindung hingekommen?
Diese kurze Anekdote verdeutlicht ein urmenschliches Bedürfnis: In Verbindung zu sein. Gesehen zu werden. Welche Kraft das „Gesehen werden“ entwickeln kann, zeigt Marina Abramovićs berühmte Performance „The Artist Is Present“, die vom 14. März bis 31. Mai 2010 im New Yorker Museum of Modern Art stattfand. Bei dieser saß Abramović täglich acht Stunden lang regungslos auf einem Stuhl und blickte stetig wechselnden Besucher:innen in die Augen, die ihr gegenüber Platz nahmen. Durch diese stille, nicht-verbale Begegnung ermöglichte Abramović eine Form des intimen Kontakts, der ohne Worte auskam. Die schlichte Handlung des „Einfach-Daseins“ betonte die Bedeutung von Präsenz und Achtsamkeit im Moment. Durch den intensiven Blick der Künstlerin wurden die Teilnehmenden sich ihrer selbst und des anderen gewahr. Viele beschrieben das Erlebnis als tief emotional, einige waren sogar zu Tränen gerührt.
Nehmen wir uns in unserer digitalisierten und individualisierten Gesellschaft trotz aller Achtsamkeits-Mantras zu wenig Zeit für echte Verbindungen? Eine Frage, die sich sicher-lich nicht pauschal beantworten lässt. Befragungen wie beispielsweise die des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) weisen – auch beeinflusst durch die Corona-Pandemie – einen erheblichen Anstieg von Einsamkeit auf. Demnach fühlt sich heute jede:r Dritte zwischen 18 und 53 Jahren zumindest teilweise einsam – Tendenz steigend.
Gleichzeitig leben wir in einer Welt multipler Krisen, die uns gesellschaftlich wie persönlich herausfordern. Gerade Menschen, die von Einsamkeit betroffen sind, haben statistisch gesehen ein höheres Risiko, sich politisch oder religiös zu radikalisieren. Zwischenmenschliche Beziehungen, der Zusammenschluss zu Netzwerken sowie Communityarbeit können Schlüssel sein, um persönliche wie gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern und diesen Tendenzen entgegenzuwirken.
Was bei der Kraft eines empathischen Blicks durch ein Gegenüber beginnt (siehe Abramović), potenziert sich in Freundschaftsnetzwerken, Communities und Kollektiven. Wenn Menschen sich zusammenschließen und füreinander da sind, entstehen nicht nur Beziehungen, die Stabilität und Trost spenden, sondern oftmals auch neue Perspektiven und Lösungen. Überfordernde Gefühle lassen sich leichter sortieren, wenn man sie mit jemandem teilt. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass soziale Interaktionen Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin, Endorphine und Oxytocin freisetzen, die positiv auf die Stimmung wirken und Wohlbefinden fördern können.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete vor Kurzem von einer interessanten Studie der University of Virginia, welche die Kraft von Verbundenheit eindrücklich illustriert: Junge Teilnehmende standen mit einem schweren Rucksack vor einem steilen Hügel und sollten einschätzen, wie anstrengend der Aufstieg sein würde. Wenn jemand bei ihnen stand, bewerteten sie die Herausforderung als weniger groß – vor allem, wenn die Begleitung vertraut war. Übertragen auf schwierige Lebenssituationen oder gesellschaftliche Spannungen zeigt sich: Mit einem nahestehenden Menschen an der Seite erscheint die Welt weniger bedrohlich.
Eine weitere Strategie gegen Ohnmachtsgefühle ist es, Engagement im direkten Umfeld zu finden. Auch wenn man im Großen den Lauf der Dinge nicht ändern kann, so lohnt es sich dennoch, sich dort zu engagieren, wo Veränderung im Kleinen möglich ist. Mit dem persönlichen Verhalten kann man sich für Zusammenhalt und Empathie in der Gesellschaft einsetzen: Angefangen bei einem Lächeln für eine fremde Person, über ein offenes Ohr für eine Person in der Nachbarschaft bis hin zum Engagement in örtlichen Vereinen oder Initiativen. Gerade durch den Zusammenschluss mit Gleichgesinnten kann der Glaube zurückkommen, dass man etwas bewegen kann. Dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit ist essenziell für das Individuum und stärkt das Prinzip Hoffnung.
Starke Netzwerke und solidarische Gemeinschaften bieten nicht nur Unterstützung in Krisensituationen, sondern stärken auch das Vertrauen (in sich und andere) und das Gefühl von Zugehörigkeit. Wenn Menschen füreinander einstehen, fühlen sie sich verantwortlich für die Bedürfnisse anderer und entwickeln eher ein Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit und das Gemeinwohl. Dies stärkt den sozialen Zusammenhalt und macht es möglich, auch größeren gesellschaftlichen Herausforderungen mit kollektiver Kraft zu begegnen. Doch Solidarität entsteht nicht von selbst – sie muss bewusst gefördert und gestaltet werden, um Menschen die Kraft zu geben, gemeinsam schwierige Phasen zu bewältigen und aus Krisen heraus gestärkt hervorzugehen.
Stadtteilzentren und Quartiersarbeit leisten beispielsweise einen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt und der Entwicklung kultureller Strukturen in Wohnvierteln: Sie bieten Menschen unabhängig von Alter, Herkunft und sozialem Status eine Anlaufstelle sowie eine Möglichkeit der Begegnung. Durch niederschwellige Beratungsangebote können Menschen dort Hilfe erhalten z. B. bei der Bewältigung behördlicher Angelegenheiten. Bei kulturellen Veranstaltungen besteht für die Bewohner:innen des Viertels die Möglichkeit, miteinander in Austausch zu kommen und ggf. Ressentiments und Vorurteile abzubauen. Quartiersarbeit setzt zudem stark auf Partizipation und initiiert Prozesse zur gemeinschaftlichen Gestaltung des Viertels. Ob Urban Gardening-Projekte oder die Umgestaltung von Spielplätzen – durch die Beteiligung der Bewohner:innen werden das Verantwortungsgefühl für den Stadtteil und das Gefühl der Selbstwirksamkeit gestärkt. Beteiligung findet jedoch nicht nur in Großstädten mit Stadtteilzentren statt. Auch in kleineren Kommunen etablieren sich mehr und mehr Beiräte und Projektgruppen, die die Bürger:innen dazu einladen, die eigene Gemeinde aktiv mitzugestalten.
Projekte und Bewegungen entstehen aber auch jenseits institutionalisierter Strukturen. Bei den sogenannten „Graswurzelbewegungen“ engagieren sich Menschen jenseits von Organisationen oder politischen Parteien für ein gesellschaftliches oder politisches Thema. Ausgehend von der Initiative einzelner oder weniger Menschen entstehen somit Netzwerke Gleichgesinnter, die das Ziel verfolgen, gesellschaftliche Veränderungen „von unten“ herbeizuführen. Ein Paradebeispiel für eine der eindrucksvollsten Graswurzelbewegungen der letzten Jahre ist „Fridays for Future“: Der Protest einer einzelnen Schülerin in Schweden – Greta Thunberg – war der Anstoß für die Entwicklung der aktuell größten Klimabewegung der Welt. Dabei wesentlich: Graswurzelbewegungen leben vom Prinzip der Selbstorganisation, direkter Beteiligung und lokalen Netzwerken und stärken dadurch das Vertrauen in gemeinschaftliches Handeln.
Das Prinzip der Selbstorganisation ist auch Grundlage zahlreicher Selbsthilfegruppen. Bei diesen kommen Menschen mit ähnlichen Problemen und Erfahrungen zusammen und tauschen sich aus. Betroffene erleben in diesem Kreis meist ein hohes Maß an Verständnis für die eigene Situation und das Gefühl, mit den eigenen Problemen nicht allein zu sein. Sich als Teil einer Gruppe wahrzunehmen ist ein weiterer positiver Effekt, den Selbsthilfegruppen bewirken können. Sie wirken damit Isolation und Einsamkeit entgegen, welche nicht selten mit persönlichen Krisen einhergehen. Ob Stadtteilzentren, Graswurzelbewegungen oder Selbsthilfegruppen – diese drei beschriebenen Formen von Community- und Netzwerkarbeit geben nur einen beispielhaften Eindruck davon, welche Kraft das „Miteinander“ entwickeln kann. Gerade angesichts zahlreicher spalterischer Tendenzen und überfordernder Krisen sollten wir uns auf diese Kraft besinnen. Es ist entscheidend, die Welt gemeinsam verstehen zu wollen und sich mit anderen zusammenzuschließen. Denn nur so können wir unsere kollektive Widerstandskraft stärken. Dabei spielt auch Empathie eine essenzielle Rolle. Sie ist eine wichtige Grundlage des Zusammenhalts. Aufgrund ideologisierter Debatten fällt es vielen zunehmend schwer, Empathie für das Gegenüber aufzubringen dennoch sollten wir uns darum bemühen, weil sie die Tür zum gegenseitigen Verstehen offenhält. Empathie ist eine menschliche Superkraft. Setzen wir sie ein! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen angenehmen Tag.
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Text: Magdalena Falkenhahn