Die Künste sind essenziell für das menschliche Leben und Überleben, als sie vielen Menschen Halt gaben. Kunst ist ein grundlegender Ausdruck des Menschseins und ermöglicht es, Erfahrungen, Emotionen und Weltanschauungen zu reflektieren und zu kommunizieren. Von Höhlenmalereien bis zur modernen Kunst zeigt sich, dass Kunst tief in der menschlichen Natur verwurzelt ist und ästhetische Erfahrungen ermöglicht, die über kognitives Verstehen hinausgehen. Kunst hat auch eine spirituelle Dimension und kann als Widerstands- und Protestmittel gegen Ungerechtigkeit dienen, wie historische und moderne Beispiele zeigen. Insgesamt trägt Kunst zur Identität und Vielfalt von Gemeinschaften bei und bietet individuelle und kollektive Reflexionsräume.
Die Künste gelten gemeinhin als eine der schönsten Nebensachen der Welt, als überlebensnotwendig werden sie hingegen selten eingestuft. Das scheint auf den ersten Blick logisch, unmittelbar lebensbedrohliche Lebenslagen etwa können die Künste nicht heilen. Bekanntlich gehört zum Menschen aber mehr als die reine leibliche Unversehrtheit. In dieser Hinsicht stellt sich die Relevanz der Künste nochmals anders dar. Während der Covid-19 Pandemie, die zeitweise mehr oder weniger die ganze Welt zum Stillstand brachte und menschliche Kontakte stark einschränkte, waren es die Künstler:innen und die Künste, die vielen Menschen Halt gaben:
„Wir haben den Lockdown überlebt, weil wir uns Lieder angehört haben. Weil wir Geschichten gelesen haben, weil wir Fernsehen gekuckt haben und uns dort jemand Geschichten erzählt hat. Weil wir miteinander durch Kunst überlebt haben“, so die Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke im Podcast „Hotel Matze“.
Der Mensch ist in besonderer Weise in der Lage, Kunst hervorzubringen. Erste Zeugnisse künstlerischer Betätigungen sind Höhlenmalereien. 2021 wurde die bisher älteste figurative Höhlenmalerei in der Leang-Tedongnge-Höhle auf der indonesischen Insel Sulawesi entdeckt. Sie zeigt die Abbildung eines lebensgroßen Pustelschweins und wird auf ein Alter von mindestens 45.500 Jahren datiert. Die Menschen stellten in Höhlenmalereien oft das dar, was sie in ihrer Umwelt erlebten und sahen: Tiere, Jagdszenen... Bereits hier zeigt sich: Die Kunst ist ein Sprachrohr unseres Weltverständnisses. Wir Menschen sind nicht nur Teil der Welt, sondern wir können uns auch auf sie beziehen . Als einziges Wesen auf der Erde sind wir zur sogenannten Objektrepräsentanz in der Lage, welche sich bereits in den Höhlenmalereien zeigt: Wir haben die Fähigkeit auf etwas Bezug zu nehmen, das jetzt gerade nicht da ist (das Pustelschwein ist beim Akt des Malens nicht anwesend). Der Mensch stellt eine Repräsentation der Welt dar, er gestaltet die eigene innere Welt in Bezug auf andere Wesen und Dinge aus und bringt etwas Eigenständiges aus sich hervor. Kunst hat damit einen Eigenwert, ohne eine andere Funktion erfüllen zu müssen (im Gegensatz z.B. zu einer Gabel, die auf einen bestimmten Zweck hin erschaffen wurde). Künstlerischer Ausdruck ist dem Menschen innewohnend, was sich besonders deutlich im Kindesalter zeigt: Denn Kinder tanzen, malen und singen ganz von allein, aus eigenem Antrieb heraus. Es ist ein Medium des spielerischen Lernens und eine wesentliche Möglichkeit, mit der Welt in Beziehung zu treten. In der Begegnung mit den Künsten machen wir ästhetische Erfahrungen. Sie können uns dazu bringen, die Welt um uns herum und uns selbst auf neue und aufregende Weise zu betrachten. Dabei entdecken wir mitunter neue Aspekte von Dingen und Ideen, die uns zuvor nicht aufgefallen sind. „Eine wesentliche Funktion von Kunst besteht demnach darin, traditionelle Wahrnehmungs- und Denkweisen aufzubrechen. Das Gewohnte wird in Frage gestellt, das Vertraute wird fremd gemacht, Irritationen sollen zu einer Umstrukturierung der Wahrnehmung und des Denkens führen“, schreibt Ursula Brandstätter. (Ästhetische Erfahrung | kubi-online) Gleichzeitig haben die Künste aber auch eine affirmierende, also eine bestätigende Kraft: Ich erkenne mich in den Worten Anderer wieder, meine Emotionen finden Ausdruck in einem Bild…
Die Künste sind somit nicht nur Ausdruck menschlicher Reflexionen und Gefühle, sondern regen die Menschen auch wiederum zu Reflexionen an, bringen Gefühle hervor und lassen uns in Verbindung treten mit anderen. Sie können somit auch als Mittlerin zwischen dem Menschen als Individuum und der menschlichen Gemeinschaft verstanden werden. Als wesentlicher Bestandteil des kulturellen Erbes einer Gesellschaft, tragen die Künste zur Identität und Vielfalt einer Gemeinschaft bei. So spiegeln sie die Werte, Traditionen und Geschichte einer Gesellschaft wider.
Kunst kann uns aber auch auf einer Ebene berühren, wo kognitives Verstehen nicht hinreicht. Der Spruch „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ weist auf diese Fähigkeit der Kunst hin. So zeigen sich die Künste in vielen Therapieansätzen auch als wirksames Mittel, um Menschen ein Medium zum Ausdruck ihrer Gefühle und Schmerzen zu ermöglichen. Für Ärztin und Psychotherapeutin Lena Adams liegt in den Künsten die besondere Fähigkeit, über Worte hinaus eine Verbindung zu erschaffen. Dies stellt sie auch regelmäßig im Kontakt mit ihren Patient:innen fest: „Mit vielen Patienten, die sich schwer tun zu reden, kann ich gemeinsam ein Bild anschauen. Wir treffen uns dabei in einem Raum, wo sich was verbindet, ohne dass wir das explizit sagen müssen.“ In der Annahme von Paul Watzlawicks These „Man kann nicht nicht kommunizieren“ ist Kunst auch immer ein Versuch, das nicht-logische und non-verbale zum Schwingen zu bringen.
Für einige Menschen erweisen sich die Künste auch als Scharnier zu transzendenten Dimensionen. Die Verbindung zwischen Kunst und Religion spielt seit den Anfängen ritueller Zusammenkünfte eine wichtige Rolle und lässt sich weltweit in den verschiedensten kulturellen Kontexten finden: Religionen auf der ganzen Welt haben in vielfacher Weise Kunst hervorgebracht. Kunstwerke hatten und haben dabei oft die Funktion, das Göttliche darzustellen, als Gegenstand zur Anbetung zu dienen oder spirituelle Erkenntnisse zu vermitteln. Gerade bei der Kontemplation spielen ästhetische Erfahrungen eine zentrale Rolle. Sie eröffnen die Möglichkeit, einen Zustand der Transzendenz im Sinne eines „Über-sich-hinaus-Gezogen-Werdens“ zu erleben, welcher wiederum als spirituell empfunden werden kann. Oft entstehen beim Staunen über die Komplexität, Schönheit und Erhabenheit der Natur Gefühle der Verbundenheit mit etwas Größerem – für manche mit etwas Göttlichem. „Schönheit“ ist für die Künste seit jeher eine Kraft, mit der die Künste ringen. Die Suche nach der wahren Schönheit oder gar die Ablehnung jeglicher Schönheit in den Künsten führt oft zu tiefen und existenziellen Frage. Im Letzten geht es dabei auch immer wieder um die Suche nach dem „Unverzwecktem“, dem „An-sich-Wertvollen“, dem „Heiligen“.
Jahrhundertelang hatte die Kunst eine moralische und appellierende Funktion, nämlich vom großen Ganzen - dem Staat, der Religion – auf den einzelnen zu wirken. Nicht selten wurde Kunst im Rahmen staatlicher Propaganda dazu missbraucht, Menschen ideologisch zu manipulieren. Als Reaktion auf die moralische Verzweckung der Kunst entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine Position: „l’art pour l’art“ („Kunst um der Kunst willen“). Jegliches Zusammenwirken zwischen Kunst und Leben wurde dabei abgelegt und abgelehnt. Mit der Revision der Moderne und den Erfahrungen des Dritten Reiches veränderte sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Haltung abermals. Die strikte Abgrenzung von Kunst und Leben wird in Frage gestellt. Vermehrt verbreitete sich die Ansicht, dass Kunst auf eine ganz ureigene Weise wirksam sein kann, ohne dabei rein in der Ästhetik verbleiben zu müssen. Damit kehrte man zurück zu dem Verständnis, dass die Künste Mittel zur Verortung des Menschen in seiner Umwelt sein können und damit auch Medium der kritischen Selbsterkenntnis. In diesem Sinne ermöglicht Kunst eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation und befähigt den Menschen zu einem Umgang mit ihr. Hier liegt auch das Potential der Kunst, ihre widersetzliche, rebellische Kraft. Insbesondere für Menschen oder Gruppen, die Unterdrückung oder Ungerechtigkeit erfahren, bieten die Künste Möglichkeiten der Bestärkung, des Trostes oder des Protests: „Spirituals“ und „Gospels“ dienten Sklav:innen in den USA einerseits als spiritueller Halt, andererseits wurde die vielschichtige Poesie der Songtexte aber auch für versteckte Botschaften zu Flucht und Aufrufen zum Protest genutzt. Etwa hundert Jahre nach Ende der Sklaverei entstand – ebenfalls in den USA – die HipHop-Kultur. Aus der Notwendigkeit heraus, sich Gehör zu verschaffen, entwickelten Schwarze Jugendliche und Jugendliche of Color neue kreative Ausdrucksformen. Menschen, die durch Rassismus und Klassismus vom kulturellen Leben ausgeschlossen waren, ermächtigten sich u.a. durch Tanz, Sprechgesang oder Graffiti-Kunst. Die U.S.-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde schreibt in ihrem 1985 erschienenen Essay „Poesie ist kein Luxus“ insbesondere über die Bedeutung der Poesie für marginalisierte Frauen: „Sie ist eine lebenswichtige Notwendigkeit unserer Existenz. […] ist die Art und Weise, wie wir dem Namenlosen einen Namen geben, damit es gedacht werden kann.“ Weltweit nutzen Künstler:innen Freiraum der Kunst, um gegen ungerechte Staatssysteme und Ideologien aufzubegehren oder Gesellschaftskritik zu üben. Nicht selten, ohne dabei persönliche Konsequenzen fürchten zu müssen, wie es 2011 beispielsweise der chinesische Künstler Ai Weiwei erleben musste, der 81 Tage lang ohne Anklage inhaftiert wurde. Der öffentliche Raum wird oft genutzt für Anstöße und Interventionen. So transportierte der Münchner Künstler Christian Schnurer 2011 ein ausgebranntes Autowrack aus Tunesien als „Souvenir der Revolution“ nach München und installierte es in der Maximilianstraße – der Luxus-Flaniermeile der Landeshauptstadt. Nachdenklichkeit erzeugen, Fragen hervorbringen, Komplexität deutlich machen, Dinge anders herum denken, dies alles können die Künste, können ästhetische Erfahrungen bewirken. Im Spannungsfeld zwischen Differenz und Affirmation haben sie das Potential einer transformierenden Kraft, denn sie ermöglichen es auch, uns als schöpferisches Wesen zu erleben, in Verbindung mit anderen zu treten und einen Raum für unbegreifliches und non-verbales zu öffnen.
---
Text: Magdalena Falkenhahn